Bundesliga
Zwischen Ekstase und Ohnmacht
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| Montag, 9. Mai 2016Feiernde Bayern, frustrierte Berliner, weinende Stuttgarter und stolze Leipziger: Eine Woche vor dem Bundesliga-Saisonfinale schwappen die Emotionen über
Erfolgshunger ohne Ende: Der FC Bayern krallt sich die vierte Meisterschaft in Serie. Oliver Fritsch (Zeit Online) applaudiert: „Die Stärke des Vereins zeigt sich im Vergleich mit den anderen Meistern der vergangenen zwanzig Jahre. Bremen und Stuttgart stecken im Abstiegskampf. Wolfsburg liegt nur wenige Punkte über der gefährdeten Zone. Dortmund erlebt zwar dieses Jahr ein Comeback, stand aber vor gut einem Jahr auf dem letzten Platz. Und Kaiserslautern ist schon lange nicht mehr erstklassig. In München dagegen ist der Erfolg zu Hause.“
Nicht viel mehr als ein Trostpreis
Klaus Hoeltzenbein (SZ) hingegen findet ein langes Haar in der Suppe: „Der Klub hat sich durch konsequente Kader-Planung raketengleich von der Liga-Konkurrenz entfernt. Er hat sich zum Konzern von Welt entwickelt; und in dieser Welt komprimiert sich die Frage, ob eine Spielzeit positiv oder negativ war, inzwischen oft auf ein einziges Duell. Dieses hatten die Münchner am Dienstag heldenhaft gegen Atlético Madrid verloren. Da wäre es nun arg geheuchelt, eine in Ingolstadt besiegelte Meisterschaft als viel mehr als nur den Trostpreis darstellen zu wollen.“
Christoph Leischwitz (Spiegel Online) hat schon ekstatischere Meisterfeiern erlebt: „Natürlich waren die Münchner zunächst zu ihren Fans gegangen und hatten einen Humba-Humba-Pogo getanzt. Genauso selbstverständlich hatte jemand die obligatorischen Meister-T-Shirts ausgepackt, laut denen es ja auch etwas Historisches zu feiern gab: „4ever“ war darauf zu lesen – keinem Bundesliga-Team war es zuvor gelungen, die Meisterschale viermal in Serie zu holen. Doch als auch die Ingolstädter allmählich aufhörten, ihre famose Saison und den letzten Spieltag im eigenen Stadion zu feiern, standen plötzlich auch die Münchner nur noch herum. Sich euphorisch gehen zu lassen, das schien niemandem möglich zu sein. Weißbierduschen? Fehlanzeige.“
Womöglich wurden falsche Prioritäten gesetzt
Während in Ingolstadt gefeiert wird, macht sich in Berlin Frust breit. Ausgerechnet Sandro Wagner vermiest der Hertha den Saisonabschluss vor heimischer Kulisse. Michael Rosentritt (Tagesspiegel) erinnert an einen Tag im Februar, als die Berliner Misere ihren Lauf nahm: „Womöglich wurden falsche Prioritäten gesetzt, Anfang Februar nach dem Viertelfinalsieg in Heidenheim. Das einzige große Ziel sei das Pokalfinale. In der Liga war die Ausgangslage trotz dreier Unentschieden weiterhin günstig bis verheißungsvoll. Damals drückten sie sich bei Hertha, hier ein klares, mutiges Ziel auszugeben. Das Pokalfinale sollte es sein. Daraus wurde aus bekannten Gründen nichts. Bei den Spielern tut sich jedenfalls seitdem eine große Leere auf.“
André Görke (Tagesspiegel) nimmt sich den Darmstädter Matchwinner nach dessen Jubelarie vor der gegnerischen Fankurve zur Brust: „Hätte ein hübscher Nachmittag werden können im Olympiastadion. Die Sonne brannte im Gesicht, das Bier lag kühl in der Hand, die Stimmung: entspannt. Herrje, es stand 1:1 gegen Darmstadt – was soll’s? Hinterm Stadion dösten die Hertha-Fans im Gras, als plötzlich Sandro Wagner seine Show abzog. Er schoss das 2:1 gegen Hertha, große Sache, großer Jubel. Na klar! Nur: Sandro Wagner hörte gar nicht mehr auf. Er zündelte, ohne es merken. Er zeigte den Zuschauern den sinnbildlichen Mittelfinger, als er vor ihrer Kurve rumfuchtelte, sich aufs Herz klopfte und die Fußballerfolklore abzog. Es flogen Plastikbecher – aber Wagner tanzte weiter. Fans wollten über den Graben klettern – aber Wagner tanzte weiter wie ein übergeschnapptes Kind mit einer Bockwurst vorm Löwenkäfig rum.“
Gesprengte Vorstellungskraft
In Stuttgart ist die Stimmung noch mieser. Es droht der erste Abstieg nach 41 Jahren Bundesligazugehörigkeit. Thomas Haid und Carlos Ubina (Stuttgarter Zeitung) begleiten einen traurigen VFB-Coach aus dem Stadion: „Knapp drei Stunden nach dem bittersten Moment seiner Trainerkarriere ist Jürgen Kramny zu seinem Auto getrottet. Einen Rollkoffer hat er hinter sich hergezogen, und auf dem Parkplatz des Clubgeländes warteten noch ein paar VfB-Fans auf ihn. Ein Foto wollten sie haben. Kramny nahm eine Frau für das Bild in den Arm – und dabei hätte er wohl selbst Trost gebraucht. Denn was sich zuvor beim 1:3 gegen Mainz im Stuttgarter Stadion abgespielt hatte, sprengte im Vorfeld seine Vorstellungskraft: Der VfB, sein Verein, ist mit ihm an der Spitze so gut wie abgestiegen.“
Wolfgang Scheerer (swp.de) blickt mit einem Fünkchen Hoffnung in die Zukunft: „Der VfB schreckt zunehmend ab: talentierte Spieler, die früher vielleicht gekommen wären. Sponsoren, die ihr Geld noch gerne in Beine statt Maschinen investieren. Schwer vorstellbar ist das alles ohne großes sportliches Aushängeschild. Dennoch, es braucht jetzt dringend einen Neuanfang. So bitter das ist, vielleicht weckt erst ein demütiger Abstieg in die zweite Liga neue Euphorie.“
Bundesligafußball wird wieder spannend
In Sachsen feiert man die Aufstiegshelden von RB Leipzig. Volker Heun (manager-magazin.de) freut sich auf die Neuankömmlinge: „Der Aufstieg ist nur einer von vielen Zwischenschritten auf dem Weg nach oben, hier reift eine neue Mannschaft im Kampf um die Champions-League-Plätze heran. Betrachtet man den sportlichen Erfolg von Red Bull in anderen Sportarten – die Marke gewann unter anderem vier Formel-1-Weltmeistertitel –, wird schnell klar, dass RB Leipzig mittelfristig auch die Deutsche Meisterschaft zuzutrauen ist. Bundesligafußball wird wieder spannend.“
Auch Christoph Karpe (mz-web.de) zieht seinen Hut: „Das Konstrukt kann man verdammen. Andererseits: Jetzt ist der große, schöne Fußball zurück. Die Bayern kommen, auch Dortmund und andere prominente Vereine stellen sich in Leipzig vor. Die Fans der Roten Bullen erleben Festtage. Die Stadt wird profitieren. Es gibt rings um den Aufstieg viel Positives, vor dem niemand die Augen verschließen kann.“
Maximilian Schmeckel (goal.com) nimmt allen RBL-Kritikern den Wind aus den Segeln: „Ein Plastikverein ohne Tradition seien die Bullen. Ein machtgieriger Klub, der einem der sogenannten Traditionsvereine einen Platz im Oberhaus wegnähme. Ein Klub wie eine Krankheit, der den deutschen Fußball gleich einer Seuche krank mache und der nicht besser sei als die von steinreichen Förderern gepushten Klubs in England oder Russland. All diese Vorwürfe zeugen von Naivität, von Hass, von Unwissenheit. Denn mit RB Leipzig steigt kein Klub auf, der keineswegs auf schnellen Erfolg um jeden Preis aus ist, sondern einer, der Pionierarbeit für den deutschen Fußball leistet, der für Nachhaltigkeit steht und der einer ganzen Region die Begeisterung am Volkssport Nummer eins zurück bringt.“