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Deutsche Elf

Kahn nur noch einer von vielen

Oliver Fritsch | Dienstag, 7. September 2004 Kommentare deaktiviert für Kahn nur noch einer von vielen

Über Fußball und Jürgen Klinsmanns neue Methoden reden viele, zu viele, „leider bieten immer mehr Medien Kolumnisten auf, die sich durch ihr Verhalten zu aktiven Zeiten schon fürs ewige Schweigen qualifiziert haben“ (NZZ) – „Oliver Kahn ist einer von vielen geworden“ (BLZ) / „offenbar ist nicht nur auf Kahns Kopf was passiert, sondern auch darin“ (FR) – „Dieter Eilts ist jetzt U-21-Nationaltrainer und damit der größte Gewinner der Klinsmann-Rotation“ (Tsp) u.v.m.

Kolumnisten, die sich fürs ewige Schweigen qualifiziert haben

Sehr lesenswert! Über das neue Koordinationstraining Jürgen Klinsmanns machen sich Bild & Co., wenig überraschend, lustig. Martin Hägele (NZZ 7.9) ärgert sich über diese Verbohrtheit (oder Dummheit): „Die hierzulande unbekannten Übungen haben aus der Sicht der deutschen Traditionsverwalter zwei Fehler: Erstens kommen die Leistungsdiagnostiker vom US-Institut Athletes Performance aus Arizona, und zweitens hat sie der neue Bundestrainer Jürgen Klinsmann mitgebracht. Der 40-Jährige mit den zwei Wohnsitzen Stuttgart-Botnang und Los Angeles / Huntingdon Beach spürt mittlerweile nicht nur Wohlwollen und Sympathie, dass sich da endlich ein kreativer und innovativer Sportsgeist des seelisch schwer verletzten und zuletzt bös geschmähten Patienten Nationalteam annimmt. (…) Ähnlich kritisch beäugt wird Felix Magath, der sich beim Versuch, den Rekordmeister Bayern München physisch aufzumöbeln und neue Hierarchien und ein vernünftig aufgebautes Spielsystem einzuführen, die ersten Beulen am Boulevard geholt hat. In der Tat hängt sehr viel zusammen beim Versuch, die beiden wichtigsten Fussballmannschaften Deutschlands neu zu orientieren. Leider halten sich im Land des dreimaligen Welt- und Europameisters viel zu viele Professionals und Ex-Professionals für Fussball-VIP und zum Kommentieren berufen. Leider bieten auch immer mehr Medien gerade jene Kolumnisten auf, die sich durch ihr Verhalten zu aktiven Zeiten schon fürs ewige Schweigen qualifiziert haben: Lothar Matthäus, Paul Breitner, Thomas Berthold oder Mario Basler etwa, alle mehr oder weniger unehrenhaft aus dem Nationalteam geschieden, wissen auf einmal ganz genau, wie man das nationale Flaggschiff wieder auf Vordermann bringt.“

Offenbar ist nicht nur auf dem Kopf was passiert, sondern auch darin

„Oliver Kahn scheint bereit, sich wieder an seiner Leistung messen zu lassen, nicht an seiner Aura“, mutmaßt Jan Christian Müller (FR 7.9.): “Als Kahn den Interviewraum verlassen hatte, haben sich die Journalisten verwundert und etwas ratlos angeschaut. War das noch derselbe Mann, der vor drei Wochen tief getroffen gewirkt hatte, als ihm von Jürgen Klinsmann eröffnet worden war, dass er fortan nicht mehr die unumstrittene Nummer eins sei und auch nicht mehr Kapitän? Inzwischen trägt Kahn, 35, nicht mehr diese Disko-Frisur. Er sieht wieder so aus wie 2002, am 30. Juni im WM-Finale. Und er wirkt inzwischen sogar so, als könne er es positiv für sich verarbeiten, nun nicht mehr der unumstrittene Titan von damals zu sein – oder ist er nur ein guter Schauspieler? In ungewohnter Bescheidenheit formuliert er Sätze wie diesen: „Wenn es mir die nächsten zwei Jahre nicht gelingt, der Beste zu sein, habe ich auch keinen Anspruch darauf, die Nummer eins zu bleiben.“ Da ist offenbar nicht nur auf dem Kopf was passiert, sondern auch darin.“

Kahn ist einer von vielen geworden

Auch Andreas Lesch (BLZ 7.9.) glaubt, eine Schrumpfung zu beobachten: „Irgendwann muss er begonnen haben, das zu glauben: dass er ein Titan ist, ein unbesiegbarer. Er hat mehr und mehr das Leben eines Rockstars geführt, und das hat ihn aufgezehrt. Fast scheint es so, als ob Kahn seine besten Jahre hinter sich habe, als Torwart der Nation. Jürgen Klinsmann hat ihm die Kapitänsbinde genommen und sie Michael Ballack überreicht. Im Team soll das gut angekommen sein, Kahn ist ein Einzelgänger, kein unkomplizierter dazu. Früher, als er noch Kapitän war, hat Kahn immer in der letzten Pressekonferenz vor einem Länderspiel gesessen. Er hat eine Art Regierungserklärung gegeben: für die Journalisten, den Gegner, und ein bisschen auch für sich selbst. Jetzt ist Kahn einer von vielen geworden.“

Michael Horeni (FAZ 7.9.) fügt hinzu: “Der Eindruck verstärkt sich, daß der Kampf um das deutsche Tor womöglich schon entschieden ist, bevor er wirklich begonnen hat. „Er ist die klare Nummer eins. Olli wird 2006 nicht auf der Bank sitzen. Das kann ich mir nicht vorstellen – und davon geht auch niemand aus“, sagte Kapitän Michael Ballack dieser Zeitung. Kahn sei „sehr wichtig für die Hierarchie in der Mannschaft – und bei der WM brauchen wir die stärksten Männer.“ Jens Lehmann jedenfalls wirkt schon wieder deutlich gedrückter als zum Amtsantritt von Klinsmann, der bei seiner Präsentation zunächst die große Torwartrotation ohne Ansehen der Person ausgerufen hatte, dann aber Kahn wieder als Nummer eins und Lehmann nur als Herausforderer einstufte. Kahn jedenfalls präsentiert sich angesichts der veränderten Atmosphäre deutlich entspannter als vor wenigen Wochen. Irgendwann sagte Kahn sogar, daß er sich auf das Spiel freue. So etwas hat man von ihm lange nicht mehr gehört.“

Kahn muss der Paradigmenwechsel wie die Abkehr vom Evangelium vorkommen

Die Bundestrainer wollen offensiver spielen lassen; hätten sie Oliver Kahn um Erlaubnis fragen müssen, Ludger Schulze (SZ 7.9.)? „Engagiert und temperamentvoll erläutert Joachim Löw den neuen Stil der Auswahl: Tempospiel, Offensive, Risiko. Mit keiner Silbe ist ihm Kritik an Vorgänger Völler zu entlocken, auch wenn er ungewollt beschreibt, woran das Spiel der Deutschen lange krankte: „Wenn ich nur quer und langsam spiele, stelle ich die gegnerische Abwehr nie vor Probleme.“ Das ist neu, so neu, dass ein Journalist von einer „kleinen Revolution“ spricht. „Ich weiß nicht, ob das so revolutionär ist“, antwortet Löw. Es ist ja auch nichts anderes als der Versuch, den Muff von tausend Jahren wegzuwedeln und Anschluss an moderne Zeiten zu finden. Denn so, mit Tempo, schnellen Ballpassagen und frühem Angreifen, kicken längst alle, die erfolgreich sind. Klinsmann und er sind dabei, eine Infusion anzulegen und frisches Denken in Adern und Hirn ihrer Spieler tröpfeln zu lassen. (…) Kahn ist ein Apologet der reinen Lehre von der Defensive gewesen. Hinten gut stehen, die anderen kommen lassen und vorne der Erleuchtung harren. Dem Schlussmann muss der Paradigmenwechsel wie die Abkehr vom Evangelium vorkommen. Eigentlich könnte man erwarten, dass im Inneren von Oliver Kahn Vulkane flüssiges Lava speien, doch er müsste schon ein brillanter Lügner sein, wenn er wider eigene Überzeugung den Wandel lobt, der mit Klinsmann eingezogen ist. Kein Zweifel, es tut sich was in der Nationalmannschaft.“

„Dieter Eilts ist jetzt U-21-Nationaltrainer und damit der größte Gewinner der Klinsmann-Rotation“, stellt Ingo Schmidt-Tychsen (Tsp 7.9.) fest: „Der ehemalige Nationalspieler besitzt zwar einen Trainerschein, viel Erfahrung hat er als Trainer aber noch nicht. Bisher trainierte er lediglich die U-19-Junioren des DFB. Und die flogen bei der EM in der Schweiz schon in der Vorrunde raus. Klinsmann machte ihn trotzdem zum Nachfolger des glücklosen Uli Stielike. „Ich kann ihm hundertprozentig vertrauen“, sagt Klinsmann über seinen ehemaligen Teamkollegen aus der Nationalmannschaft. Klinsmann, Eilts und Teammanager Oliver Bierhoff sind 1996 zusammen Europameister geworden.“

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