indirekter freistoss

Presseschau für den kritischen Fußballfreund

Deutsche Elf

Auf großes Vertrauen kann sich Klinsmann nicht stützen

Oliver Fritsch | Freitag, 9. September 2005 Kommentare deaktiviert für Auf großes Vertrauen kann sich Klinsmann nicht stützen

Nach dem 4:2 gegen Südafrika – Michael Horeni (FAZ 9.9.) befasst sich mit deutscher Abwehrschwäche und Jürgen Klinsmanns Status: „Jugend ist kein Wert an sich, und mit jedem weiteren mit defensiven Macken behafteten Testländerspiel wird es für Klinsmann schwieriger, das Fußball-Land davon zu überzeugen, daß der Lernprozeß der jungen Spieler bis zur Weltmeisterschaft entscheidende Sicherheitsfortschritte macht. (…) Man wird sich wohl daran gewöhnen müssen, daß es zur Grundübung des deutschen Fußballfans gehören wird, bei jedem schnellen Angriff eines deutschen Gegners den Atem anzuhalten. Der Sieg hat dem Bundestrainer nach dem starken öffentlichen Druck gleichwohl mehr Spielraum gegeben für seinen eigenwilligen Weg der Kaderfindung. Aber auf großes, gar auf restloses Vertrauen kann sich Klinsmann nicht stützen. Keine einzige kraftvolle Stimme aus dem deutschen Fußball hat sich nach der Niederlage in Bratislava und der heftigen Kritik erhoben, um ihn in seinem Kurs zu stützen, im Gegenteil. Die öffentliche Verteidigungsarbeit mußten Oliver Bierhoff und Joachim Löw übernehmen. Die Erfahrungen der vergangenen Tage dürften Klinsmanns Haltung, nur sich selbst und seinem engsten Zirkel zu vertrauen, weiter verstärken.“

Beleidigt

Philipp Selldorf (SZ 9.9.) schaut zurück: „Souverän war das nicht, wie empfindlich beleidigt Klinsmann auf die Reaktionen nach dem Slowakei-Spiel reagierte. Dass ihn schon ein solches Kritikerstürmchen zu heftigen Grundsatzbeschwerden animierte, ist beunruhigend: Wie soll das erst werden, wenn es wirklich hysterisch wird und die Gurus in Stellung gehen?“

Die Fragen werden konkreter

Andreas Lesch (FTD 9.9.) stört sich an der rosa Klinsmann-Rhetorik und verweist auf die Niederlage in der Slowakei: „Klinsmann hat nach dem befreienden Erfolg seine liebste Rolle wiederentdeckt. Er durfte endlich wieder mehr Projektmanager als Bundestrainer sein; er konnte sich als Visionär präsentieren, der für das große Ganze zuständig ist, der den Titelgewinn bei der WM im Blick hat und nicht das mühselige alltägliche Klein-Klein. Er konnte über seine Ziele bei der WM dozieren und musste sich nicht mit der Frage herumärgern, ob Oliver Kahn der bessere Torwart ist, oder nicht doch Jens Lehmann. Klinsmanns Gerede vom Projekt WM-Gewinn ist so plötzlich wieder aufgetaucht, als habe es Urlaub in einem Paralleluniversum gemacht – und dann überraschend die vorzeitige Rückreise gebucht. Der Bundestrainer gluckste fast so glücklich wie beim Confederations Cup. Er trat auf, als habe es die Blamagen in Rotterdam und Bratislava nie gegeben. Als wolle er fragen: War was? Aber so wolkenlos wie bei dem frühsommerlichen Testturnier lebt es sich in Klinsmanns Welt nicht mehr. Er kann nicht länger vage bleiben. Je näher die WM rückt, desto konkreter werden die Fragen, die das Publikum ihm stellt.“

Unglaubwürdig

Jan Christian Müller (FR 9.9.) ergänzt: „Man kann angesichts der sich erstmalig unter dem Reformer anbahnenden Klein-Krise ja verstehen, dass Klinsmann wieder seine ‚Alles-ist-toll’-Rhetorik verbreitete. Ärgerlich wird es jedoch, wenn der Bundestrainer einer Hundertschaft Berichterstattern, fast 30 000 Augenzeugen im Stadion und mehreren Millionen Menschen vor den Fernsehern hinterher unterjubeln will, er sei ‚sehr zufrieden’ mit der Körpersprache nach dem südafrikanischen Ausgleich gewesen, seine Mannschaft habe in dieser Phase ‚Geduld’ bewiesen. Man fragt sich, ob Klinsmann tatsächlich eine derart selektive Wahrnehmung hat oder ob er bewusst versucht, die Wahrnehmung der Medien zu manipulieren. Den kollektiven Schockzustand nach dem erfolgreichen Strafstoß der Südafrikaner, als die deutsche Mannschaft plötzlich völlig den Faden verlor, als ‚Geduld’ zu loben, ist mindestens verwegen, eher gar lächerlich. Klinsmann macht sich damit unglaubwürdig.“

Herr Klinsmann muss begreifen, dass er die Medien nicht beeinflussen kann

Berries Boßmann, Redakteur der Sport Bild, sagt in einem Hintergrundgespräch (Juli 2005) mit dem indirekten freistoss: „Jürgen Klinsmann redet schwache Leistungen gut. Durch Schönrednerei und Widersprüche hat er unter Journalisten an Glaubwürdigkeit eingebüßt. Herr Klinsmann muss begreifen, dass er die Medien nicht beeinflussen kann.“ Mehr über die Bewertung von Klinsmanns Kommunikation durch Journalisten u.v.m. lesen Sie in der freistoss-Presseanalyse „Die deutsche Fußballnationalmannschaft im Umbruch“, die Sie hier kostenlos bestellen können.

Mittelpunkt eines soziologischen Diskurses

Um Lukas Podolskis Leistung zu würdigen, zitiert Philipp Selldorf (SZ 9.9.) den neidvollen Trainer des Gegners: „Stuart Baxter hatte sich während der Partie einige interessante Gedanken gemacht, etwa über Lukas Podolski, was wiederum nahe liegt, denn dessen drei Tore haben wesentlich dazu beigetragen, dass Baxter noch mehr die Entlassung befürchten muss. Baxter fing an, Podolski in den Mittelpunkt eines soziologischen Diskurses über die Unterschiede der europäischen und afrikanischen Fußballkultur zu stellen. Er erörterte, dass die Spieler in Südafrika nur in dringenden Fällen aufs Tor schießen, weil die Tore auf den Bolzplätzen der Townships keine Netze haben und der Ball deswegen kilometerweit durch die meist hügelige Stadtlandschaft davonspringt. Ihr Fußballspiel erfüllt sich also in langen Ballpassagen. ‚Podolski schießt nach ein, zwei Kontakten aufs Tor. Das kennen meine Spieler nicht’, sagte Baxter, ‚ihr Spiel ist viel komplizierter – wie das ganze Leben in Afrika.’“

FAZ: Podolski-Gala
FR: Deutschland im Poldi-Fieber

FAZ: die deutsche Abwehr in der Einzelkritik

Bildstrecke vom Spiel, faz.net

TV-Tipp: Arte-Themenabend Franz Beckenbauer, Tsp

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