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Presseschau für den kritischen Fußballfreund

Deutsche Elf

Große Unsicherheit

Oliver Fritsch | Freitag, 9. Juni 2006 Kommentare deaktiviert für Große Unsicherheit

Deutschland sei zwar ortskundig, hege aber auch große Selbstzweifel, hat La Nación, die größte Tageszeitung Costa Ricas, vor dem Eröffnungsspiel festgestellt: „Deutschland ist zu Beginn der WM umgeben von Zweifeln und erweckt nicht die Siegesgewißheit, die normalerweise im Gastgeberland herrscht. Bezüglich der Frage, was Deutschland an der WM erreichen kann, kursiert eine große Unsicherheit auf Seiten der deutschen Presse.“ Die Observation des 3:0 der Deutschen gegen Kolumbien wertet man in Costa Rica als Wissensvorsprung: „Deutschland gegen eine Art des Fußballs gewinnen zu sehen, die unserer ähnelt, wird der costaricanischen Technik sehr nützlich sein, um daraus die letzten Schlüsse zu ziehen, wie Costa Rica gegen die Teutonen spielen sollte.“

Phrasendrescher

Kevin McCarra (Guardian) urteilt vernichtend über Jürgen Klinsmann: „Klinsmanns Selbstdefinition als CEO der Nationalmannschaft mit einem Haufen Untergebenen könnte sich bald als Betrug einer Person ohne jegliches Talent oder Qualifikationen für den Job als Nationaltrainer herausstellen. Klinsmanns Faible für Slogans hat einen faden Beigeschmack, der Phrasendrescher muß immer etwas anderes versuchen. Die Romantiker können bei der WM zwar auf den Aufschwung von Schweinsteiger, Podolski und Lahm hoffen, aber Klinsmann wird nicht Weltmeister werden. Er wird genug damit zu tun haben, Schadensbegrenzung zu betreiben und dem deutschen Fußball die traumatische Ernüchterung zu ersparen.“

Tsp: 22 Monate hat Jürgen Klinsmann auf diesen Tag hingearbeitet – was hat der Bundestrainer bewirkt und wie sieht seine Zukunft aus?

FR: Kann Deutschland Weltmeister werden? Pro und Contra (die sich allerdings nicht sehr unterscheiden)

Hohe Null

Wie könnte eine deutsche Mannschaft ohne Michael Ballack aussehen? Christof Kneer (SZ) runzelt die Stirn: „Dem FC Bayern darf man vielleicht zutrauen, dass er sich gewinnbringend aus der Abhängigkeit von Michael Ballack befreien wird, beim FC Deutschland ist man da nicht so sicher. Wie Deutschland ohne Ballack aussehen wird, kann man sich vorstellen; wie es funktioniert, ist ausgesprochen ergebnisoffen. Man darf wohl davon ausgehen, dass sich Torsten Frings, Bernd Schneider, Bastian Schweinsteiger und Tim Borowski zu einem Vierermittelfeld zusammenfinden, aber ob das eine flache, steile oder karierte Vier sein wird, kann niemand wissen. Deutschland hat ja mächtig herumexperimentiert zuletzt, manchmal hatte man den Eindruck, dass es sich hier um eine höhere Wissenschaft handelt. Man hat von Rauten raunen hören, welche sich in der Rückwärtsbewegung zu einer Doppelsechs verbiegen; man ist flachen Vieren begegnet, welche willens und imstande sind, sich je nach Spielverlauf zu einer Raute deformieren zu lassen. Das Problem war nur, dass sich all diese geometrischen Figuren am Ende oft ähnlich sahen: Die doppelte Sechs und die flache Vier sahen oft aus wie eine ziemlich hohe Null. Wenn man das deutsche Mittelfeld von oben sieht, sieht man manchmal, dass man nichts sieht. Man sieht dann ein großes Loch, an dessen Rändern willige Nationalspieler hin- und herwetzen.“

As

El País erwartet Michael Ballack neben Beckham, Casillas, Deco, Henry, Riquelme, Ronaldinho, Ronaldo, Shevchenko, Totti und Zidane unter den „Assen der WM“: „Er scheint als Mittelfeldorganisator eine solide Grundlage zu haben, Deutschland zu einem Kandidaten für den Titel zu erheben. Er wird während des Turniers einem enormen Druck standhalten müssen, und davon, wie er damit umgeht und inwiefern dies sein Spiel beeinflußt, werden viele der deutschen Möglichkeiten, etwas Wichtiges zu schaffen, abhängen. Es besteht kein Zweifel, daß die Zukunft des WM-Gastgebers durch die Füße und den Kopf von Michael Ballack bestimmt wird.“

Kraftprobe zwischen Kapitän und Trainer

Bemerkenswert! Philipp Selldorf (SZ) deutet die verteidigenden Aussagen Michael Ballacks über sein Verhalten bei seiner Verletzung als fortschreitenden Konflikt mit Jürgen Klinsmann: „Das Statement hatte den Tonfall eines fortgeschrittenen Wutausbruchs und ergab damit einen verblüffenden Kontrast zur amtlichen Atmosphäre der ‚Zuversicht und Vorfreude‘. Offenkundig hat Ballack davon erfahren, dass es über seinen Umgang mit der Verletzung Diskussionen gibt. Unterstellungen seien ‚eine absolute Frechheit: Es ist fast schon rufschädigend, wie über mich gesprochen und was über mich verbreitet wird‘. Gegen wen richtete sich die zornige Klage? Nicht mal die üblichen Gurus und Ex-Gurus sind bisher mit Ferndiagnosen und Kritik in Erscheinung getreten. Offiziell hatte bloß Klinsmann Stellung genommen, als er erklärte, Ballack habe die Qualität des Problems am Wochenende ‚unterschätzt‘. Aber er hatte das nicht als Vorwurf, sondern beschwichtigend formuliert. Eine Debatte mit dieser Dimension hatte Klinsmann in seiner Projektplanung definitiv nicht vorgesehen, zumal es nicht nur um Ballacks lädierten Muskel und ein wenig gekränkte Eitelkeit geht. Dahinter zeichnet sich auch eine Kraftprobe zwischen dem Trainer und dem Kapitän ab, die bereits in der vergangenen Woche einsetzte, als Ballack vor der Presse die gnadenlos offensive Spielorientierung der Mannschaft kritisierte – und damit den Kern von Klinsmanns Hurra-Deutschland-Konzept in Zweifel zog. Das glatte 3:0 gegen Kolumbien reklamierte Ballack auch als Resultat seines Eingreifens. (…) Viele Beobachter – auch solche, die ihn länger kennen – staunten über die Meinungsfreude und Offenheit Ballacks, der üblicherweise ein Mann von zurückhaltendem Naturell ist. Ob sich aber auch Klinsmann über die Emanzipation des (Noch-) Münchners freut? Am Dienstag verkündete der Bundestrainer vor der versammelten Mannschaft, dass für den Einsatz im Eröffnungsspiel am Freitag nur Spieler berücksichtigt würden, die auch am Mittwoch beim Training mitmachen könnten. Dies war auch der Versuch eines Autoritätsbeweises. Prompt humpelten am nächsten Tag Ballack und der ebenfalls angeschlagene Robert Huth auf die Wiese. Nach einer halben Stunde musste Ballack das Training abbrechen. Wäre dann nicht ein weiterer Tag Pause der Genesung förderlicher gewesen als das Eingliedern in die Trainingsgruppe? Die Frage ist, wie viel Kontrolle über sein Projekt Klinsmann abzugeben bereit ist.“

faz.net: Ballack wehrt sich gegen Rufschädigung

FAZ: Michael Ballack fällt (vielleicht doch nicht) aus, Chance für Tim Borowski (?)

In der Hierarchie nach oben geklettert

Michael Ashelm (FAZ) macht aus Poldi und Schweini Podolski und Schweinsteiger: „Sie stehen für das fröhliche Fußballspektakel. Ihre unkomplizierte Sicht auf die Herausforderungen hat ihnen viele Sympathien eingebracht. Doch ihre Rolle als Juniorfreaks der Fußballarena beginnt sich langsam zu ändern. Mit der Weltmeisterschaft steigt die Verantwortung – Podolski und Schweinsteiger spüren bei aller Leichtigkeit oder Blödelei, daß es auf sie ankommen wird. Wie in einem Selbsterfahrungs-Crash-Kurs der Volkshochschule konnten beide wohl die wichtigsten Erkenntnisse für ihre Karriere aus den vergangenen zwölf Monaten herausziehen, als die eigene Leistung von Schwankungen und störenden Einflüssen beeinträchtigt wurde. Das sah so aus: erst der traumhafte Einstand beim Confederations Cup, dann der langsame Abstieg, verbunden mit persönlichen Tiefschlägen – und schließlich das Comeback. Nicht nur im Sportlerleben gilt die Erkenntnis, daß gerade Krisen die größten Entwicklungsschübe erzeugen. Podolski litt an der Überforderung, als junger Kapitän des Aufsteigers aus Köln die ganze Verantwortung über die Mannschaft zu tragen. Sein gleichaltriger Kompagnon litt zuletzt vor allem an der fehlenden Anerkennung durch Felix Magath, der ihn zum Ersatzspieler degradierte. Die wenigen Einsätze für den FC Bayern förderten nicht gerade das Selbstvertrauen, zudem wirkte sich der juristische Streit mit seinem ehemaligen Berater und vor allem der Münchner Medienskandal um Schweinsteigers angebliche Verwicklung in einen Wettskandal höchst nachteilig auf seine Entwicklung aus. Die Moral des pfiffigen Oberbayern hat dies nicht gebrochen. Wie bei Podolski hat die Nationalmannschaft immer als Fluchtort und Kraftfeld gedient, wo Klinsmann beiden Spielern Vertrauen entgegenbrachte. Allen Widrigkeiten zum Trotz sind beide ihrer Art treu geblieben und nicht gestrauchelt. Während ihr Kollege Kevin Kuranyi für sein Phlegma bestraft wurde und zu Hause bleiben mußte, behielten sie ihr Ziel fest in den Augen. (…) In der teaminternen Hierarchie sind die beiden Einundzwanzigjährigen ein paar Stufen nach oben geklettert, Schweinsteiger ein bißchen höher.“

Die Financial Times meldet: Uli Hoeneß, der gute Mensch aus München, bitte die Münchner Fans um Unterstützung für Jens Lehmann. Jetzt kann nichts mehr schiefgehen!

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