indirekter freistoss

Presseschau für den kritischen Fußballfreund

Deutsche Elf

Angriff auf den „Capitano“

Jan-Carl Ronnecker | Mittwoch, 7. Juli 2010 Kommentare deaktiviert für Angriff auf den „Capitano“

Philipp Lahm will die Binde nicht ohne weiteres wieder abgeben; die Zeit der Platzhirsche scheint vorbei

Michael Horeni (FAZ) glaubt, dass Lahm die Rückendeckung der Mannschaft besitzt: „So wie man das junge Team in den vergangenen Wochen erleben konnte, kann man kaum glauben, dass Lahm mit seinem Alleingang nicht auch eine interne Stimmung artikulierte, die seit Wochen zu spüren ist, aber über die öffentlich nur in Andeutungen geredet wurde. Die Abwesenheit des jahrelang herrschenden und beherrschenden Kapitäns empfinden einige Spieler wie eine Befreiung, die flache Hierarchie mit der Verantwortungsteilung auf ganz viele verschiedene Schultern als einen entscheidenden Faktor für den Erfolg. Die Verantwortung, die Ballack in der Vergangenheit übernahm und auch an sich zog, hat vielfältige Kräfte freigesetzt, von denen der Bundestrainer und auch die Spieler zu Beginn gar nicht so genau wussten, wie weit sie tatsächlich tragen würden.“

Flache Hierarchie auf und neben dem Platz

Auch Christof Kneer (SZ) ist der Meinung, dass zwischen der Hierarchiefrage und der Umsetzung der Spielphilosophie Zusammenhänge bestehen: „Als Deutschland vor zwei Jahren im Wiener EM-Finale den Spaniern begegnete, war dies ein Treffen zweier Teams, die nicht ganz aus derselben Epoche stammten: Hier waren die Spanier, die ihren Fußball nach modernsten Standards organisierten; dort waren die Deutschen, die im Kern noch von den dominanten Autoritäten Ballack und Frings befehligt wurden. Zwei Jahre später kann Bundestrainer Löw für sich in Anspruch nehmen, seine Elf in der Neuzeit verankert zu haben. ‚Es gibt bei der WM noch Teams, die von großen Persönlichkeiten oder starkem Individualismus leben‘, sagt er, ‚unsere Vorstellung aber war immer, dass wir eine eingespielte Elf haben wollen, die konzeptionellen Fußball spielt.‘ Es wäre unfair, die Absenz des Spitzenspielers Ballack als Geheimnis des Erfolgs zu preisen – dennoch hat seine Abwesenheit dazu geführt, dass sich eine Gruppe organisiert hat, die zum Prototypen taugt. Deutschland spielt, zum ersten Mal seit langem, auf der Höhe der Zeit.“

Die Frage nach dem Zeitpunkt

Jan Christian Müller (FR) ist wenig begeistert von Zeitpunkt für die Eröffnung der Debatte: „Lahm hat mit seinem Führungsanspruch auch über die Weltmeisterschaft hinaus eine angesichts der neu geordneten, sehr gut funktionierenden Hierarchie nachvollziehbare Forderung gestellt. Nur: Musste das unbedingt jetzt raus? Sicher nicht! Im Nachhinein können alle Beteiligten froh sein, dass Ballack abgereist ist, ehe er Kenntnis von Lahms Äußerungen erlangte. Andernfalls wäre die Vorbereitung aufs WM-Halbfinale noch viel, viel empfindlicher gestört worden.“

Philipp Selldorf (SZ) vermutet keinen Zufall bei der Reihenfolge dieser Ereignisse: „Er ist nicht heimgeflogen, weil ein Eklat bevorstand. Eher ist der Ablauf des Falls wohl umgekehrt zu betrachten: Lahm wusste offenbar, dass Ballack abreisen würde, und selbstredend auch, dass sein Anspruch aufs Kapitänsamt öffentliche Diskussionen auslöst, die Ballack zwangsläufig als Verlierer dastehen lassen. Man kann nicht von einem rücksichtsvollen Verhalten sprechen. Diese DFB- Reiberei könnte auch aus dem Tierreich stammen, sie passt nach Afrika, wo Löwen um die Herrschaft im Rudel kämpfen. Dem geschlagenen Rudelführer droht meist ein trauriges Ende.“

Ballack für Baku

Christian Spiller (Zeit Online) ist nicht bereit, Ballack jetzt schon abzuschreiben: „Im Augenblick scheint die DFB-Elf ganz gut ohne Michael Ballack klarzukommen. Aber Ballack wird den Ehrgeiz entwickeln, zurückzukommen. Und es wird diese Momente geben, diese dreckigen Qualifikationsspiele in Baku oder Astana. Spiele gegen Mannschaften, die ähnlich wie die Serben nicht daran denken, der deutschen Elf Raum für ihr Spiel zu geben. Wenn es eng wird vor dem gegnerischen Strafraum wird die Wucht eines Michael Ballack noch immer benötigt, seine Zweikampfstärke und Torgefahr. Das Ganze kann allerdings nur funktionieren, wenn Michael Ballack die veränderte Hierarchie in der Mannschaft anerkennt. Wenn er seine Rolle als Elder Statesman annimmt. Auf dem Feld kann er noch immer weiterhelfen, die Zeiten eines „Capitano“ aber sind vorbei.“

Kommentare

Comments are closed.

  • Quellen

  • Blogroll

  • Kategorien

  • Ballschrank

118 queries. 0,423 seconds.