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Presseschau für den kritischen Fußballfreund

Deutsche Elf

Verzettelt

Oliver Fritsch | Freitag, 3. März 2006 Kommentare deaktiviert für Verzettelt

Die Pressestimmen zum Länderspiel in Italien

„Deutschland zum Fußballzwerg geschrumpft“ (FAZ)

Italienisch-Lektion

Von den Italienern lernen heißt Toreschießen lernen – diese Weisheit schreibt Peter Hartmann (NZZ) gerne hinter deutsche Ohren: „Das Erstaunen der italienischen Spieler über die Naivität, die taktische Unbedarftheit, die verstörte Unbeholfenheit dieser deutschen Abwehr ging nach dem dritten Tor in befreites Lachen über, nach der Kopfball-Stafette, die aussah wie ein Spass im Training. (In Wahrheit war diesem Bilderbuchtreffer allerdings ein Offside vorausgegangen.) Erschreckend die Unbeweglichkeit und die Orientierungslosigkeit der deutschen Riesenbabys Huth und Mertesacker in den Zweikämpfen, unbegreiflich, wie der Klinsmann, der selber vier Jahre in der Serie A gespielt hat, seine Mannschaft ins Verderben laufen liess, etwa mit der dilettantisch gestellten Abseitsfalle. (…) Ausgerechnet der kleinste Spieler auf dem Platz, der 1,73-Meter-Zopfträger Mauro Camoranesi, bereitete zwei Tore mit dem Kopf vor. Er, der mürrische Anti-Star, war der Unsichtbare, der im Klinsmann-Dispositiv überhaupt nicht vorkam. Sein Gegenspieler Lahm schien noch beeindruckt von den Sehenswürdigkeiten der Stadt Florenz. Wie fern sind die überschäumenden Auftritte der ‚Poldi & Schweini‘-Boygroup am unschuldigen ‚Confetti-Cup‘. Für Podolski hätte Klinsmann zur Pause eine Vermisstmeldung durchgeben müssen. Schweinsteiger durfte sich noch die letzten 20 Minuten ins Elend stürzen. Wenigstens hat Deisler mit einigen aufbegehrenden Fouls den Schein eines Kämpfertums gewahrt, der ältesten deutschen Tugend, die im Stadio Artemio Franchi begraben wurde. Die Squadra Azzurra des Grossvaters Marcello Lippi hat dem Jugendverein des Umstürzlers Klinsmann eine moderne Italienisch-Lektion verabreicht, die noch 99 Tage nachhallen wird. (…) Die Italiener variierten das Tempo zwischen Verhaltenheit und Overdrive, zauberten, meilenweit entfernt vom Klischee des ‚Resultatfussballs‘, das ihnen vor allem noch in Deutschland anhängt, wunderbare Pass-Ornamente auf den Rasen, mit denen sie die Klinsmänner fast ‚chloroformierten‘.“

Was für eine Komödie!

Philipp Selldorf (SZ) mahnt zur Defensive – und damit zur Demut vor dem Gegner: „Nach dem 0:0 in Frankreich hatten sich die deutschen Spieler und ihre Trainer dafür feiern lassen, dass sie sie sich dazu fähig zeigten, einem Grundgebot des modernen Fußballs zu folgen. Man könnte es mit der Formel Respekt vor der Null benennen. Dabei handelt es sich nicht um den Ausdruck von Spielverderberei, sondern um eine logische Maxime des Erfolgs. In Florenz vollzog die deutsche Mannschaft eine radikale Abkehr von der fußballtaktischen Vernunft. Alle Mann rannten nach vorn, hektisch getrieben von der strategischen Order, den Gegner im eigenen Stadion zu überrumpeln. Was für eine Überheblichkeit, was für eine Komödie! Die italienischen Spieler hätten vermutlich gelacht, wären sie nicht damit beschäftigt gewesen, die zugleich naiven wie chaotischen Vorstöße abzufangen und die auf schiefer Linie agierende Deckung systematisch auszuhebeln. Wenn Klinsmann und Löw erklären, sie wollten von ihrer ‚Philosophie‘ um keinen Deut abrücken, dann verwechseln sie die gebotene Standfestigkeit mit Unbelehrbarkeit. Es weiß längst jeder, wie die Deutschen spielen, und wie man mit ihnen spielen kann. Es weiß auch jeder, dass das junge deutsche Team zur Unordnung neigt und unvermeidlich mit Unsicherheit zu kämpfen hat. Diese Mängel zugunsten der Doktrin des emotionalen Hurra-Fußballs zu ignorieren, ist fahrlässig.“

Sozialistische Siegesgewißheit

Michael Horeni (FAZ) kritisiert Rhetorik und Politik des Bundestrainers: „Ein erschütterter Bundestrainer wollte angesichts einstürzender deutscher Fußballträume das deutsche WM-Projekt zwar weiter rhetorisch am Leben halten. Aber angesichts der bedingungslosen Kapitulation vor einer Fußball-Großmacht erinnerten die Parolen vom WM-Titel nur noch an sozialistische Siegesgewißheit – weit abgelöst von den Erfahrungen an der Basis. In Florenz ist die von Klinsmann seit Amtsbeginn propagierte Hoffnung auf eine kontinuierliche Entwicklung der jungen Mannschaft bis zur WM schwer erschüttert, wenn nicht gar zerstört worden. (…) Klinsmann wird sich nicht fragen müssen, ob er seinen inhaltlich kaum umstrittenen Kurs ändern muß. Wohl aber, was er dafür tun kann, um wenigstens das latente Reizklima zwischen ihm und dem Gros der deutschen Fußballfamilie zu mildern. Das Gegenteil ist jedenfalls der Fall, wenn ausgerechnet der deutsche Trainer beim großen WM-Workshop in der nächsten Woche fehlt, während zwanzig Kollegen aus aller Welt nach Düsseldorf kommen. Dort würde dann zumindest der Bundestrainer finden, was seine Mannschaft in Florenz vergeblich suchte: Anschluß an die Weltspitze.“

Klinsmannschaft

Sehr lesenswert! Christof Kneer (SZ/Seite 3) hält dem Trainer Klinsmann Einseitigkeit vor: „‘Wir sind alle noch in der Entwicklung‘, sagte Klinsmann, ‚ich selbst bin da keine Ausnahme.‘ Zwanzig Monate verantwortet Jürgen Klinsmann jetzt das, was Deutschland bei der Fußball-WM vertreten soll, aber diesen Satz hatte man bisher noch nie gehört. Bisher galt es als eine Art Geschäftsgrundlage, dass der große Reformator gelegentlich von seinem Wohnsitz Kalifornien herübergejettet kommt, um dem rückständigen Europa die neuen Zeiten zu erklären. Manchmal hatte er ein paar Fitnessgurus im Handgepäck, er verlegte WM-Quartiere, stornierte Länderspielreisen, kappte Netzwerke. Er ließ Psychologen einfliegen und stellte Spieler nicht mehr auf, von denen man dachte, ihnen sei der Einsatz grundgesetzlich versprochen. In der Tat hat sich Klinsmann schon jetzt ewige Verdienste erworben, weil er diesem Verband den Hang zur geschlossenen Gesellschaft ausgetrieben hat. Richtig schöne Projektleiterprojekte waren das. Noch nie aber ist so deutlich geworden wie an diesem ernüchternden Mittwoch, dass das entscheidende Projekt – nämlich jenes auf dem grünen Rasen – immer noch von einem Berufsanfänger verantwortet wird. Klinsmann ist nie zuvor Trainer gewesen, und er hat das am Mittwoch zum ersten Mal einer breiten Öffentlichkeit gestanden. Jürgen Klinsmann ist gar kein Projektleiter, wahrscheinlich ist das die neue Nachricht, die dieser Abend enthielt. Jürgen Klinsmann ist selbst noch ein Projekt, er ist selbst Teil des Entwicklungsprozesses. Er muss erst noch lernen, wie man eine Mannschaft baut; wie man sie taktisch richtig einstellt; wie man einen Gegner seziert und sodann eine Kriegslist ersinnt. Jürgen Klinsmann hat keine anderen Spieler, er hat keine zweite Mannschaft, das kann ihm keiner zum Vorwurf machen. Aber er hat keinen zweiten Plan. Klinsmann kann nur Klinsmann. (…) Es ist nicht mehr zu übersehen, dass sich hier ein Trainer eine Mannschaft nach seinem Bilde formt. Jürgen Klinsmann hat ja auch als Spieler immer über die Emotion funktioniert. Er ist nie ein filigraner Fußballer gewesen, er hat es geschafft, auf mysteriöse Weise immer besser zu sein als die Summe seiner Einzelfähigkeiten. Die deutsche Nationalelf ist eine Klinsmannschaft. An guten Tagen kann sie sich an sich selbst entzünden und feurig stürmen, so wie beim Confederation Cup. An schlechten Tagen kann sie spielen wie in Florenz. Klinsmann hat seine Mannschaft mitgenommen in seinen WM-Tunnel, und er will, dass am Ende des Tunnels eine Mannschaft herauskommt, die wie Jürgen Klinsmann aussieht. Vielleicht ist der Tunnel das Problem. Vielleicht sieht Klinsmann zu selten aus seinem Tunnel heraus.“

Aufgesetzt

Jan Christian Müller (FR/Seite 3) fürchtet um die gute Stimmung im Land: „Zwischenzeitlich schien es, dass der Aufwand den entsprechenden Ertrag einbringe: Den Confederations Cup erlebten Klinsmann und Deutschland wie im Rausch – blendeten aber willfährig aus, dass dieser Testlauf für die hochkarätige Konkurrenz nur ein nettes Schaulaufen war. Da hatte Fußball-Deutschland sich schon längst die Eindrücke verklären lassen. Möglich, dass der vergangene Sommer schon der emotionale Höhepunkt auch im Zusammenspiel des Trainers mit einer lernwilligen, aber vor allem in der Defensive nur mittelmäßig begabten Mannschaft war. Danach kam der Kater. Und so wundert sich mancher Bundesliga-Manager hinter vorgehaltener Hand über eine vorgebliche Vorwärtsphilosophie, die längst keine mehr ist. Er habe kein Konzept, kein System, und seine Argumente seien aufgesetzt, heißt es gar. Und nur noch lächerlich sei die Zielsetzung. Klinsmann kann inzwischen niemanden mehr ernsthaft glauben machen wollen, Deutschland könne mit dieser Mannschaft Weltmeister werden.“

Schwerfällig in Körper und Geist

Die Signale, die Matti Lieske (BLZ) empfängt, können ihn nicht beruhigen: „Der Schock über die bestürzende Vorstellung seiner Mannschaft war ihm direkt nach dem Spiel anzumerken, seine Stimme klang belegt, sein Blick war gehetzt. Die althergebrachte Rhetorik ließ sich jedoch schon wieder problemlos von der geistigen Festplatte herunterladen: ‚Wir haben eine Lektion erhalten‘, wiederholte Klinsmann roboterhaft, die Spieler würden daraus lernen, im Trainingslager werde man ‚in allen Bereichen hart arbeiten‘, und, schwuppdiwupp, am 9. Juni plötzlich ein weltmeisterschaftsreifes Team auf den Rasen stellen. An ein solches Zauberkunststück ist nach der orientierungslosen Darbietung schwer zu glauben. Zu schwerfällig präsentierten sich die deutschen Spieler in Körper und Geist, zu eklatant war der Unterschied zu einer italienischen Mannschaft, die sich kontinuierlich vorwärts entwickelt statt rückwärts. Der situative Ansatz zeigte sich vor allem bei der Bewertung des schnellen Rückstandes. Der kam dem Bundestrainer und anderen Interpreten im deutschen Lager offenbar wie ein Naturereignis vor, auf das man keinen Einfluss hat. Von unglücklichen Umständen sprach Klinsmann, und es klang, als hätte der Schiedsrichter plötzlich in der 6. Minute aus einer Laune heraus ein 2:0 für Italien verhängt. Dabei hatte gerade die Anfangsphase die eklatanten Defizite des deutschen Teams in allen Mannschaftsteilen brutal offenbart.“

Gefährlich ruhig

Mathias Schneider (StZ) wertet die Rückendeckung aus der Bundesliga als Alarm: „Ausgerechnet Uli Hoeneß mahnte zur Besonnenheit, was viel darüber aussagt, in welch schwere Turbulenzen diese Nationalmannschaft drei Monate vor dem Beginn der Weltmeisterschaft geraten ist. Statt wie noch im Oktober aus allen Kanälen gegen Klinsmanns Domizil in Kalifornien zu stänkern, wählte der Sprecher des wiederbelebten Arbeitskreises Nationalmannschaft diesmal einen gefährlich ruhigen Ton. Hoeneß rüttelte nicht auf, er mahnte zur Ordnung – was er nur dann tut, wenn die Not am größten ist. (…) Die Auswahl präsentierte sich in einem Zustand, der sämtliche Alarmglocken bis in die Peripherie der Bundesliga schrillen ließ. Ein Schiffbruch bei der WM brächte nicht nur die Nationalelf in einen gefährlichen Abwärtsstrudel, sondern den gesamten Fußballstandort Deutschland.“

Tsp: Aussagen aus der Bundesliga

Traumatische Erfahrung

Philipp Selldorf (SZ) warnt vor Nachwirkungen: „Fabian Ernst hatte nicht mitgewirkt, ein glücklicher Umstand, der sich eines Tages noch förderlich auf seine Karriere auswirken könnte, falls der nächste Arbeitgeber fragt: Waren Sie damals dabei in Florenz? Florenz wird nun als unheilvoller, symbolhafter Ort in die neuere deutsche Fußballgeschichte eingehen, als Inbegriff für Scheitern und entblößende Pein. Als Schauplatz einer historischen Niederlage mit tiefgreifenden Implikationen steht Florenz nun in einer Reihe mit Bukarest , als Rudi Völlers Elf 1:5 gegen Rumänien unterlag und ihre innere Verlorenheit vor der nahenden Europameisterschaft dokumentierte, oder Kaiserslautern, als sich beim nur formhalber harmlosen 1:1 gegen die Schweiz vor sechs Jahren das ganze Elend der Ära Erich Ribbeck offenbarte. Nicht das bloße Ergebnis kennzeichnet solche Menetekel, sondern deren Zustandekommen, und insofern ist Florenz für den DFB und seine erste Mannschaft die Stätte einer traumatischen Erfahrung. Gegen das jetzt folgende Gedonner in den heimischen Medien mag mancher Spieler aus Gründen der Gewohnheit schon immun sein wie die Mücke gegen das DDT, aber selbst die hartgekochten Profis dürfte es in ihrer Ehre berühren, wenn sie nun auch im Ausland als Narren und Repräsentanten eines Fußball-Entwicklungslandes wahrgenommen werden.“

Komödie? Tragödie? Drama?

Andreas Lesch (BLZ) kommentiert die gestrige Extra-Pressekonferenz: „Die Frage ist jetzt, was beim nächsten Mal passiert. Muss, wenn sich die deutschen Fußballer auch gegen die USA blamieren, tags darauf die ganze Mannschaft zur Supersonderpressekonferenz? Schickt der DFB vielleicht sogar sein komplettes 14-köpfiges Präsidium aufs Podium, damit am Ende auch wirklich alles gesagt ist, und zwar von jedem? Ausgeschlossen scheint nichts mehr zu sein nach diesem Donnerstag, an dem Deutschland mit atemloser Hysterie die 1:4-Niederlage seines Nationalteams verarbeitete. Der DFB setzte eigens eine öffentliche Krisenbesprechung an, Klinsmann verschob dafür sogar seinen fest gebuchten Rückflug in seine Heimat, die USA. Schon daran lässt sich ablesen, in welch verzweifelter Lage sich der Bundestrainer mittlerweile befindet. Klinsmann, der Sturkopf, der unabhängige Geist, der Reformer aus der Fremde, beugte sich plötzlich dem albernen Kleinklein der nationalen Kickerbranche. Er fragte allen Ernstes die Journalisten nach ihrer Meinung zum deutschen Spiel – und änderte seine Auffassung natürlich trotzdem nicht. Er sah sich gezwungen, mitzuspielen im großen WM-Theater und zweifelte offenbar, was für ein Stück da geboten wurde: Komödie? Tragödie? Drama? (…) Klinsmann gerät mehr und mehr in die Defensive, und deswegen änderte er in einem wichtigen Punkt doch seine Strategie: Er sagte die Fitnesstests, die für die Tage vor dem Spiel gegen die USA fest eingeplant waren, ab. Er gab damit seinen Gegenspielern aus der Bundesliga nach, die den Sinn der Tests seit Monaten lautstark bezweifelt hatten. Klinsmann hatte die Prüfungen stets als zentralen Teil seiner Arbeit verteidigt. Dass er nun darauf verzichtet, kann nur als eine weitere Niederlage für den Bundestrainer gewertet werden.“ Detlef Esslinger (SZ) fühlt sich von der symbolischen Politik der DFB-Führung gefoppt: „Natürlich wäre es eine Illusion zu glauben, dass ausgerechnet die Firma Klinsmann & Co., Spezialgebiet: Bescheidwissen, nun öffentlich nach Meinungen gierte, um offensichtliche Schwächen im System zu beheben. Man erkennt das schon an der Unbedingtheit, in der Joachim Löw den Vorschlag abwehrt, das Team solle taktisch variabler spielen, sich zum Beispiel auch mal zurückziehen. ‚Wir wollen nach vorne spielen. Davon werden wir in keinster Weise abweichen‘, sagt Löw kategorisch. Es geht nicht darum, die Öffentlichkeit mitreden zu lassen. Es geht darum, ihr dieses Gefühl zu geben.“

FAZ: Fiasko von Florenz
FAZ-Interview mit Ballack

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