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Presseschau für den kritischen Fußballfreund

Deutsche Elf

Nachtkick auf Kunstrasen

Kai Butterweck | Dienstag, 12. Oktober 2010 Kommentare deaktiviert für Nachtkick auf Kunstrasen

Die Presse sieht vermeintliche Probleme vor dem heutigen Spiel gegen Kasachstan weniger auf dem Platz als vielmehr innerhalb der Rahmenbedingungen der Partie

Oliver Völkl (Focus Online) belächelt die fußballerischen Qualitäten Kasachstans: „Ganz ehrlich, wer beim Spiel der Gruppe A in Zentralasien auf deutscher Seite auf dem Platz stehen wird, ist nebensächlich. Auch die U21 würde Kasachstan vermutlich vom Kunstrasen fegen. Der Fußballzwerg, in der Weltrangliste von Vietnam und den Fidschi-Inseln eingekeilt, gilt als sicherer Punktelieferant. Am schwierigsten beim Abholen der drei Punkte wird vielleicht noch der Umgang mit der Zeitverschiebung. Vier Stunden vor der deutschen Zeit liegt der frühere Teil der Sowjetunion. Was kann man also neben einem klaren Sieg erwarten vom 841. Länderspiel der Deutschen? Joachim Löw wird seine beeindruckende Statistik auf 44 Siege, neun Unentschieden und neun Niederlagen ausbauen. In Kasachstan werden Radsport, Judo, Gewichtheben und Ringen weiterhin beliebter sein als Fußball. Miroslav Klose wird Jürgen Kohlers 105 Länderspiele einstellen und vermutlich Gerd Müller in der ewigen Torjägerliste noch näher auf die Pelle rücken. Für irgendwas muss der 40-stündige Trip ja gut sein. Viel Spaß beim Debüt in Astana!“

Jan Reschke (Spiegel Online) sieht die Ausgangslage ähnlich: „5000 Kilometer Anreise. Vier Stunden Zeitverschiebung. Anstoß um 23 Uhr Ortszeit bei erwarteten Temperaturen um den Gefrierpunkt – auf Kunstrasen. Kasachstan ist der 126. der Fifa-Weltrangliste, hinter Burundi, Haiti oder Jemen. Der Mannschaft gelang in den bisherigen Qualifikationsspielen weder ein Sieg noch ein Tor. Sie ist so harmlos, dass der DFB-Tross den größten Gegner denn auch nicht in den gegnerischen Spielern ausgemacht hat – sondern in den vier Stunden Zeitverschiebung am Spielort. Denn die kann Joachim Löws Leistungsbetrieb Probleme machen. Schlafstörungen, Müdigkeit, Appetitlosigkeit oder verminderte Leistungsfähigkeit: Allesamt Kinkerlitzchen, die der Bundestrainer bei seinen Nationalspielern verhindern will.“

Zeitumstellung verboten!

Stefan Hermanns (Zeit Online) beschäftigt sich mit Joachim Löws Trickkiste: „Er ist wild entschlossen, die Mannschaft auszutricksen. Seine eigene Mannschaft. Wenn der deutsche Tross heute nach fünf Stunden Flug in der kasachischen Hauptstadt Astana aus dem Flugzeug steigt, sollen die Spieler der Illusion erliegen, dass sie nach einem Rundkurs wieder in Deutschland gelandet sind. Draußen mag es schon dunkel sein, aber für die Spieler bleibt es früher Nachmittag. Ihre Uhren werden sie auf Anweisung der sportlichen Leitung gar nicht erst umstellen dürfen, damit sie nicht in Versuchung kommen, sich über die ungewöhnliche Anstoßzeit des Qualifikationspiels zu wundern. Der Ansicht, dass die derzeit so erfolgreiche Nationalmannschaft einen Gegner wie Kasachstan, die Nummer 126 der Welt, wohl auch im Halbschlaf besiegen werde, hat der Bundestrainer entschieden widersprochen. Einen Vorteil aber haben die Deutschen: Sie dürfen schon um 19 Uhr spielen, die Kasachen müssen bis kurz vor Mitternacht auf den Anpfiff warten.“

Utopie hinterm Ural

Michael Jahn (FR) befasst sich mit den hohen Ansprüchen im Land des deutschen Gegners: „Es ist durchaus möglich, dass Bernd Storck, 47, der Fußball-Nationaltrainer von Kasachstan, bald zu einem Termin beim Verteidigungsminister der ehemaligen Sowjetrepublik einbestellt wird – zur kritischen Lagebesprechung. Adilbek Dschaksibekow kümmert sich nicht nur um die Sicherheit des riesigen Landes, er ist auch der Präsident des kasachischen Fußball-Verbandes, dessen Nationalmannschaft derzeit Platz 126 der Weltrangliste einnimmt, einen Rang hinter Haiti und knapp vor Vietnam. Dem Fußball-Präsidenten genügt diese Platzierung auf Dauer nicht, er möchte Erfolge sehen von seiner Nationalelf. In der Qualifikationsgruppe soll zumindest Aserbaidschan hinter Kasachstan landen. Das ist inzwischen zu einer utopischen Angelegenheit geworden. Um dieses Vorhaben zu erreichen, müssten die Kasachen, die gegen Belgien wenigstens eine Halbzeit tapfer Gegenwehr leisteten, am Dienstag in der Hauptstadt Astana die Deutschen bezwingen.“

Alexander Laux und Lars Wallrodt (Welt Online) zeigen sich beeindruckt von den Kuriositäten des Landes: „Wer hier oben auf dem Bajterek-Turm in 97 Meter Höhe steht, inmitten der endlosen Steppe Kasachstans, der glaubt beinahe, eine Fata Morgana zu erblicken. Die von der spätherbstlichen Sonne angestrahlten neuen Regierungsgebäude, die großen Bankfilialen und imposanten Einkaufstempel, gesäumt von riesigen am Reißbrett entworfenen Prachtstraßen, zeugen von der Vision eines auf Lebenszeit gewählten Präsidenten. 1997 wurde das zuvor bedeutungslose Aqmola (`Weißes Grab`) von Nursultan Nasarbajew in Astana  umgetauft. Nach den Plänen des Japaners Kisho Kurokawa wuchs die 700.000 Einwohner zählende Stadt seitdem im Sprinttempo – 2030 soll das gigantische, an Dubai oder Abu Dhabi erinnernde Städteprojekt abgeschlossen sein. Über zehn Milliarden Dollar wurden bis heute schon investiert. Kein Problem für Nasarbajew und sein an Bodenschätzen (Öl, Erdgas) so reiches Land. In der Kuppel des Bajterek-Turms, der von den Kasachen die Spitznamen `Aschenbecher` und `Uefa-Pokal` erhielt und eigentlich einen Lebensbaum symbolisiert, können Besucher ihre Hände in die Handabdrücke Nasarbajews legen und sich etwas wünschen. Deutsche Fußball-Nationalspieler wurden dort am Montag aber nicht mehr gesichtet nach der Landung um 19 Uhr Ortszeit. Es wird wohl auch nicht nötig sein, vor dem letzten EM-Qualifikationsspiel des Jahres höhere Mächte zu beschwören.“

Die Balance zwischen Grätscharbeit und Angriffskunst

Andreas Lesch (Berliner Zeitung) ist erstaunt über Toni Kroos` Gelassenheit: „Er kann darüber lachen, dass er überall gebraucht wird und nirgends. Vor Jahren hat er als das größte deutsche Talent seit Sebastian Deisler gegolten. Jetzt ist er im Nationalteam angekommen und plötzlich nur ein Jüngling unter vielen. Kroos, 20, muss den festen Platz, den sich seine Mittelfeldkollegen Mesut Özil, 21, und Thomas Müller, 21, schon erarbeitet haben, erst noch finden. Er hat nicht so steil Karriere gemacht wie sie. So ist er zurzeit die vielleicht begabteste Aushilfskraft der Welt. Beim Sieg über die Türkei hat er die Balance zwischen Grätscharbeit und Angriffskunst gefunden. Nebenbei hat er bewiesen, dass Eckbälle durchaus dazu erfunden worden sind, den Gegner in Gefahr zu bringen – eine Erkenntnis, die außer ihm im deutschen Team kaum ein Spieler verinnerlicht zu haben scheint. Diese Qualität ist es, die an Spielern wie Kroos erstaunt: Sie zweifeln so selten an sich. Sie gehen ganz selbstverständlich davon aus, dass ihr Können sie auf dem Platz nie im Stich lässt – und haben damit auch noch recht.“

Für Boris Herrmann (SZ) ist die Flexibilität von Kroos Segen und Fluch zugleich: „Er ist das, was man einen kompletten Mittelfeldspieler nennt. Seine Orientierung ist hellseherisch, sein Ballgefühl bereits weltbekannt, seine Schusstechnik ist oberlehrerhaft und seine Eckbälle scheinen die Lösung für ein chronisches deutsches Standard-Problem zu sein. Alles sieht so leicht aus, dass es manchmal fast flapsig wirkt. Ein Mann mit diesen Fähigkeiten kann man nahezu überall aufstellen. Und genau das tun seine Trainer auch. Bayerns Louis van Gaal bringt Kroos mal im linken offensiven Mittelfeld, mal hinter der Spitze und bisweilen auch auf der rechten Seite. Löw braucht ihn eher für defensivere Aufgaben. Auf diese Weise hat sich Kroos zu Deutschlands edelstem Aushilfsarbeiter entwickelt. Sein Problem ist, dass er in beiden Teams weiterhin einen festen Stammplatz sucht. Sein Glück ist, dass selten alle fit sind.“

Der Geist von Edwin van der Sar

Stefan Osterhaus (NZZ Online) adelt Manuel Neuer: „Neuer ist im Begriff, die lange und schillernde Tradition der deutschen Torhüter fortzuschreiben – und zwar um ein aussergewöhnliches Kapitel. Keiner seiner Vorgänger war in jenem Masse komplett in den Fähigkeiten, wie Neuer es ist, und auch im gegenwärtigen Weltfussball fällt es schwer, Pendants zu finden. Die Erscheinung: imposant, gross, muskulös. Er vereint die Reaktionsschnelligkeit eines Oliver Kahn mit dem überragenden Stellungsspiel eines Sepp Maier, er schleudert wie ehedem Toni Schumacher den Angreifern katapultartig Abwürfe in den Lauf. Zudem verfügt er über eine Eigenschaft, die noch kein Deutscher vor ihm hatte: Er spielt mit, als sei der Geist des Holländers Edwin van der Sar in ihn gefahren.“

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