Donnerstag, 25. März 2004
Ballschrank
Chelsea London, das „Spielzeug eines Superreichen“ (Spiegel) – ein gutes Buch: Postkarten von Fußball-Stadien – Reportage aus Quatar, der neuen Heimat alternder Stars
Spielzeug eines Superreichen
Michael Wulzinger (Spiegel 29.9.) kommentiert die Aufrüstung von Chelsea London: „Es ist im englischen Profi-Fußball nicht einmal ungewöhnlich, dass sich ein steinreicher Exzentriker einen Club kauft, um dann am großen Rad zu drehen. So sponserte der Stahl-Magnat Jack Walker den Provinzclub Blackburn Rovers, der 1995 Meister wurde, mit 144 Millionen Euro. Auch der Industrielle Sir Jack Hayward pumpte in den letzten 20 Jahren über 140 Millionen in die Wolverhampton Wanderers, damit sie endlich wieder erstklassig wurden. Selbst der Pop-Barde Elton John hielt sich schon einmal einen Verein – und entlohnte für eine Weile die ziemlich mittelmäßigen Kicker des FC Watford. Eine Figur wie den jugendlich wirkenden und undurchsichtig agierenden Oligarchen Abramowitsch indes hat es auch in der englischen Premier League bislang nicht gegeben; einen Mann, der es bei der Privatisierung der russischen Schwerindustrie dank dubioser Allianzen sehr früh zu einem Milliardenvermögen gebracht hat und der nun die internationale Fußballszene aufmischt, um den FC Chelsea zum besten Club der Welt zu machen. Die Summen, die Abramowitsch dafür lockermacht, sind monströs. David Dein, Vorstandsvorsitzender des FC Arsenal, machte schon mal Front gegen den Eindringling: Abramowitsch hat seine Panzer auf unserem Rasen geparkt und feuert mit 50-Pfund-Noten auf uns. Mehr noch: Der kaufwütige Russe wildert bei den besten Adressen selbst in den Führungsetagen. Sein jüngster Coup: die Verpflichtung von Peter Kenyon, dem Vorstandsvorsitzenden von Manchester United, der seit 1997 erfolgreich daran gearbeitet hat, ManU zur weltweit bekanntesten Fußballmarke zu machen. Auch bei Kenyon war die Gage das überzeugende Argument – dem Vernehmen nach kassiert der Marketingexperte allein als Handgeld für den Wechsel rund vier Millionen Euro. Know-how in Chelseas Chefetage ist nach der faktischen Entmachtung des bisherigen Vereinsbosses Ken Bates allerdings auch dringend nötig. Denn die Vertrauensleute, die Abramowitsch aus seinem Umfeld kürzlich in den Vorstand gehievt hat, wissen zwar, wie man Gewinn bringend Aluminiumfabriken verschachert. Von den Gesetzmäßigkeiten der Fußballbranche haben sie wenig Ahnung (…) Der FC Chelski (The Sun), das Spielzeug eines Superreichen. Dass die Einkaufspolitik des Clubs nicht von wirtschaftlichem Kalkül gelenkt wird, sondern von der Prestigesucht seines Finanziers, behauptet Edward Freedman, als Marketingmann jahrelang bei Manchester United tätig und heute als Berater des ukrainischen Clubs Schachtjor Donezk engagiert. Freedman sitzt im Arbeitszimmer einer Bibliothek der Jüdischen Geschichte des 20. Jahrhunderts, der Wiener Library in London, wo er als historisch Interessierter einige Stunden pro Woche lesend verbringt. Dort räsoniert er über Abramowitschs Motive. Im Hintergrund Geld zu scheffeln ist ihm langweilig geworden, sagt Freedman, Abramowitsch will jetzt mit einem Einsatz, der für ihn überschaubar und für andere unermesslich ist, berühmt werden – und das geht auf keiner Bühne so gut wie im Fußball. Das Größenwahnsinnige an dem Unterfangen ist am besten zu erkennen, wenn man die Weltstars des FC Chelsea unter der Woche beim Training beobachtet. Denn der Club, der mit den Millionen um sich wirft wie kein anderer jemals zuvor, hat keine eigenen Übungsplätze. Eine gemietete Schulsportanlage zwischen dem Flughafen Heathrow und der Autobahn M 4 am Rande des im Londoner Westen gelegenen Stadtteils Harlington – mehr kann der FC Chelsea seinen neu angekommenen Stars nicht bieten. Ein armseliger Untergrund, verglichen mit den Edelflächen, auf denen Künstler wie Verón zu arbeiten gewohnt sind. Der Boden ist hart und uneben, der Rasen an manchen Stellen gar verdörrt. Die Triebwerke der startenden Jets heulen bisweilen so laut auf, dass die Spieler sich gegenseitig nicht mehr verstehen. An den Toren hängen die dünnen Eisenlatten durch, und wenn die Profis mittwochs nicht rechtzeitig in der Kabine sind, kann es sein, dass aus den Duschen nur noch kaltes Wasser rinnt. Denn Mittwoch ist der Tag, an dem die Schüler des Imperial College zeitgleich mit den Profis Sport treiben.“
Hüter wunderbarer Schätze
Christoph Biermann (taz 2.10.) liest ein Buch mit Ansichtskarten von Fußball-Stadien: „Flutlichtmasten interessieren mich mehr als Kirchtürme, und wie fast jeder Fußballfan kann ich mich der Anziehung von Fußballstadien kaum entziehen. Denn jedes von ihnen, so schäbig und klein es sein mag, ist ein Versprechen. Ihr Stadion Old Trafford nennen die Fans von Manchester United Theater der Träume, und der englische Stadionhistoriker Simon Inglis hat die Bühnen des Spiels schon vor Jahren mit Kirchen verglichen. Nicht nur, weil die Masten weithin Orientierung geben oder Fußballstadien im kollektiven Bewusstsein einer Stadt oft eine größere Rolle einnehmen als die lokalen Gotteshäuser. Es gibt eben noch besagtes Versprechen auf überwältigende Spiele und die damit verbundene Katharsis. Daher schaue ich mir auch gerne Fotos von Fußballstadien an und nehme hier gerne den Vorwurf in Kauf, das es ein Geschmäckle hat, ein Buch zu loben, in dem ein Text von mir steht, der auch noch just an dieser Stelle schon einmal abgedruckt wurde. Ist mir aber egal, denn Ansichtssache Fußballplatz, herausgegeben vom Hamburger Fotografen Hartmut Perl, ist das Bändchen, auf das ich immer schon gewartet habe – ohne es auch nur im mindesten zu ahnen. Zwar wusste ich schon länger, dass es Menschen gibt, die Ansichtskarten von Fußballstadien sammeln, hielt sie aber für traurige Nerds und nicht Hüter wunderbarer Schätze. Ansichtskarten in ihrer seltsamen Idealisierung und den meist falschen, überzeichneten Farben, so weiß ich nun, erfassen den Zauber von Stadien jedoch am besten. Und die Ansichtskarten sind die Stars dieses Buches – nicht die Texte. Meistens schon viele Jahre alt, mitunter gezackten Rändern, teilweise an den Ecken umgeknickt, entfalten sie eine besondere – man muss es wohl so sagen – Aura.“
Web-Site der „deutsche Stadionansichtskarten Sammlervereinigung“
Endlich! Eine Reportage aus Quatar, neue Heimat Stefan Effenbergs und Mario Baslers – Thomas Becker (SZ 2.10.): „Was bleibt den großen Kickern nach 15, 20 Jahren Profi-Fußball? In die zweite oder dritte Liga will keiner, ebenso wenig wie ins bürgerliche Leben. Typen wie Katsche Schwarzenbeck mit seiner viel zitierten Lotto-Annahmestelle sind die Ausnahme. Die meisten bleiben beim Fußball hängen: büffeln für Trainerscheine, spähen nach Talenten, versuchen sich beim Fernsehen oder im Marketing, werden Kolumnist, Manager, Spielervermittler. Und träumen von einem Ort, einem warmen Arkadien, wo man mit alten Kumpels noch ein bisschen kicken und danach ohne Zapfenstreich ein Bierchen trinken kann. Und natürlich eine Unmenge Geld bekommt. Der Ort hat nun einen Namen: Fußballers Garten Eden heißt Doha/Quatar. Bislang kennt man die Ortsmarke vor allem wegen des Fernsehsenders al-Dschasira, der seit sechs Jahren auf Sendung ist. Oder von Berichten über das Hauptquartier der US-Streitkräfte während des Irak-Kriegs. Oder als ungewöhnlich ruhigen, da sicheren Tagungsort der Welthandelsorganisation im Herbst 2001. Oder aus Statistiken über die reichsten Ländern der Erde. Quatar, halb so groß wie Hessen, besitzt das drittgrößte Erdgasvorkommen der Welt, die eifrig wachsende staatliche Fluglinie unterzeichnete im Juni einen Fünf-Milliarden-Dollar-Auftrag für Airbus. Bis zur Unabhängigkeit 1971 war Quatar britisches Protektorat, seitdem regiert der Emir. Doch Seine Hoheit Sheikh Hamad Bin Khalifa Al Thani, Staatsoberhaupt, seitdem er vor acht Jahren seinen Vater entmachtete, scheint der Sinn nach Demokratie zu stehen. 1999 wurde erstmals ein 29-köpfiger Rat gewählt, sogar Frauen durften zur Wahl. Ende April stand nun ein Verfassungsentwurf zur Volksabstimmung, der die Quasi-Monarchie bald zur Demokratie wandeln könnte. 77 Prozent stimmten mit Ja. Kurz darauf ernannte der Emir eine Frau zur Bildungsministerin – ein einmaliger Vorgang in der Golf-Region. Aber vor allem im Sport sorgt Quatar dafür, dass es wahrgenommen wird. Seit zehn Jahren gehört das Tennis-Turnier zur Männer-Tour, nächstes Jahr kommen auch die Damen. Bei den Golf-Cracks steht das Quatar Masters im Kalender. Ein Motorrad-Grand-Prix kommt hinzu, im März 2004 die Tischtennis-WM, 2005 die Westasien-Spiele. Und als Höhepunkt: die Asienspiele im Jahr 2006, 33 Sportarten, 5000 Athleten. Bei der Handball-WM der Junioren schlug der 600 000-Einwohner-Staat die Auswahl des weltgrößten Handballverbandes: Deutschland. In der Leichtathletik folgten die ersten kenianischen Läufer dem Lockruf des Geldes: Saif Saeed Shaheen holte bei der WM in Paris die erste Goldmedaille für das Emirat. Und jetzt auch noch Fußball (…) Sportart Nummer eins in Quatar, sagt Mohannadi. 1960, als der Verband gegründet wurde, verfügte man über den ersten Rasenplatz am Golf. In den Vierziger Jahren hatten die britischen Öl-Gesellschaften den Fußball in die Wüste gebracht, doch aufgegangen ist die Saat nie. Nun versucht man alles, damit Doha „Hauptstadt des Sports in Asien wird“, wie Mohannadi sagt. Sein Vorgänger Mohamed Bin Hammam ist ins Exekutive-Komitee der Fifa aufgerückt, im Oktober tagt der Weltfußballverband in Doha. Nicht nur zahlreiche Hochhäuser, sondern auch fünf der acht Stadien werden neu gebaut. Mit dem Franzosen Philippe Troussier wurde aus Japan ein Nationaltrainer geholt, der weiß, wie man eine Diaspora zum Blühen bringt. Auch dort hatte man vor zehn, 15 Jahren damit begonnen, alternde Stars mit dem Geld großer Firmen in das Fußball-Entwicklungsland zu locken: Pierre Littbarski, Gary Lineker, Toto Scillaci und andere. Vor neun Jahren gewann Quatar noch 4:0 gegen Japan. Vergangenes Jahr feierten die Ostasiaten eine aufregende WM, spielten prima mit. Quatar scheiterte in der Qualifikation knapp: an China, einer weiteren WM-Überraschung. Die Kluft zu den Riesen-Völkern in Fernost scheint nicht allzu groß zu sein. Die WM 2010 ist das Ziel. Oder vielleicht doch schon 2006.“
Fredi Bobic in Berlin Tsp
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Vom SC Freiburg kann die Konkurrenz auch wirtschaften lernen
Martin Hägele (NZZ 13.5.) gratuliert. „Dass sich die sympathische Freiburger Fussballschule so schnell zurückgemeldet hat, schadet der Bundesliga nach deren langweiligster Saison seit Menschengedenken gewiss nicht. Das Niveau, das Finkes verschiedene Auswahlteams immer praktiziert haben, hebt den sportlichen Level der Bundesliga garantiert. Vom SC Freiburg kann die Konkurrenz auch wirtschaften lernen. Denn die Verträge, die der ehemalige Manager Andreas Rettig aufgesetzt hatte, besassen alle auch Gültigkeit für die zweite Liga, bei einer gleichzeitigen Gehaltsreduktion. So kam es, dass nicht alle Bilanzen ins Minus purzelten und der Klub trotz deutlich geschrumpften Fernseheinnahmen schuldenfrei dasteht. Diesem realitätsbewussten Sparkurs bleibt das Freiburger Management auch jetzt treu: 24 Millionen Euro beträgt der Etat für die Saison 2003/04. An der Schwarzwaldstrasse hat man sich an diese Art des Wirtschaftens gewöhnt; man wird deshalb nie richtig übermütig werden können, aber auch nie richtig tief fallen und wie so viele andere Traditionsklubs nach dem Sturz aus der Bundesliga in einem schwarzen Loch verschwinden. Das Publikum in Freiburg schätzt es, wenn seine Lieblinge die Stars und Herrschaften der Liga ärgern, weil sie pfiffiger, erfinderischer und auch ein bisschen mit mehr Fleiss als der grosse Rest spielen. Anderseits gehen Fans wie Verantwortliche mit dem Abstiegsrisiko nicht so schicksalhaft und pathetisch um. Dafür steht der Satz von Trainer Finke: „Eigentlich hat Freiburg in der ersten Liga nichts verloren.“ Nun aber sind sie trotzdem wieder da, zum dritten Mal seit 1993 – mit zwei kurzen Pausen in den Spielzeiten 1997/98 und in der laufenden Runde. Und der Coach hat dabei einen Rekord aufgestellt, der wohl auch nirgendwo anders möglich wäre. Dreimal ist Finke mit den „Breisgau-Brasilianern“ mittlerweile aufgestiegen. Trotzdem ist noch kein Mensch darauf gekommen, die Freiburger als Liftmannschaft zu bezeichnen – ein Attribut, das beispielsweise dem VfL Bochum, Arminia Bielefeld oder dem 1.FCNürnberg gern angeschrieben wird. Auch das zeigt den ungeheuren Respekt, den die Kicker aus dem südlichsten Zipfel der Republik im ganzen Land geniessen.“
Blick für junge Spieler, deren Talent anderswo übersehen wird
Malte Oberschelp (FTD 13.5.) porträtiert den wichtigsten Spieler im Team. „Die Rolle der Leitfigur übernahm Zlatan Bajramovic. Über die Saison gesehen war Bajramovic mit seinen bisher 14 Treffern – als defensiver Mittelfeldspieler – das Herz des Freiburger Teams. Zum einen übertünchte er das diese Saison einmal mehr komplizierte Verhältnis der SC-Stürmer zum Torabschluss, zum anderen brachte er wichtige Qualitäten in ein Team ein, das von jeher unter dem Verdacht der Schönspielerei steht: den manischen Willen, Zweikämpfe zu bestreiten und zu gewinnen. Bajramovic ist 23 Jahre alt, spielt für die Nationalmannschaft Bosnien und Herzegowinas, hat den Großteil seines Lebens in Hamburg verbracht und kam vergangenes Jahr vom FC St. Pauli. Dass der SC Freiburg inzwischen schon acht Jahre in der Bundesliga absolviert hat, dabei zweimal im Uefa-Cup spielte und sowohl nach dem Abstieg 1997 als auch dem im vergangenen Jahr postwendend ins Oberhaus zurückkehrte, liegt an Transfers dieser Art. Nach wie vor hat SC-Trainer Volker Finke einen Blick für junge Spieler, deren Talent anderswo übersehen wird und die erst im Freiburger Fußballkonzept zu bekannten Namen werden – ob sie nun Jens Todt, Rodolfo Cardoso, Jörg Heinrich, Sebastian Kehl oder eben Zlatan Bajramovic heißen.“
Joachim Mölter (FAZ 13.5.) blickt zurück. „Was dann das Unternehmen Bundesliga-Rückkehr problematisch gestaltete, war jedoch weniger die Physis als vielmehr die Psyche. Es ist brutal schwierig für Spieler, die ein Jahr vorher die dritte Runde im Uefa-Cup erreicht haben und Bundesliga gespielt haben, wenn sie in der Zweiten Liga auf einmal auf der Tribüne sitzen müssen, sagte Manager Bornemann. Viele Gespräche seien nötig gewesen, um die Profis bei Laune zu halten, verriet Trainer Finke, aber sonst nicht viel: Es ist ja eher so, daß wir gar nicht erzählen, was wir alles gemacht haben. Diesem Grundsatz bleiben die Freiburger auch treu, wenn es um die Verstärkungen für die nächste Saison geht. Als spektakulärsten Zugang gab Finke am Sonntag Martin Braun bekannt, den Kapitän der Aufstiegself von 1993. Der kehrt freilich nicht aufs Spielfeld zurück, sondern in die Geschäftsstelle, wo er sich vor allem um die Sponsoren kümmern soll. Solche Neuzugänge sind manchmal mehr wert als jemand, der mit dem linken Fuß besonders hart schießen kann, sagte Finke. Zumal er den Eindruck hat, daß die Arbeit des SC Freiburg noch immer nicht gebührend honoriert wird: Es scheint attraktiver zu sein, als Sponsor bei einem Klub einzusteigen, der kurz vor der Insolvenz steht, als irgendwo, wo jahrelang seriös gearbeitet worden ist.“
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Der Werbewert des Fußballs, die Anfänge der Trikotwerbung
Themen: der Werbewert des Fußballs – der gestiegene ökonomische Wert der Fans – Interview mit Michael Meier (Manager Borussia Dortmund) – Historie: die Anfänge der Trikotwerbung (mehr …)
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Nationalistische Anfälle
Peter Burghardt (SZ 24.6.) zum selben Thema. „Spanien bekommt bei Sportveranstaltungen regelmäßig nationalistische Anfälle, diesmal ist es ein Taifun. Die Tageszeitung El Pais wies zwar in einem Leitartikel auch auf sportliche Gründe hin. Spaniens Nationalelf müsse angesichts von Erfahrung und Gehältern ihrer Profis mit solcher Überzeugung auftreten, dass sie weder 43.194 heisere Kehlen noch elf koreanische Dauerläufer, ein holländischer Wundertrainer und ungeschickte Schiedsrichter stoppen können. Spanien ist ja bei jedem Turnier solange Favorit, bis es ausscheidet. Doch es blühen die Verschwörungstheorien. „Mafiosos“, übermittelten Fans im Marca-Chat,“was sollen wir bei einer WM, wenn alles verkauft ist?“, einer schlug sogar die Gründung einer „Parallel-Fifa“ vor. Auch ein Vaterlandsverräter steht vor Gericht, es ist Verbandspräsident und Fifa-Vize Angel Maria Villar, der für die Verteilung der Schiedsrichter zuständig ist. Wie könne man nur einen Ägypter, einen Ugander und einen Anfänger aus Trinidad-Tobago zusammen spannen, ereifert sich As: „Die Antwort der Dritten Welt. Nun wird sogar Deutschland um Rache gebeten, obwohl Spanien die Grobmotoriker aus Alemania nicht ausstehen kann. Außerdem forderte in Sevilla ein spanischer Reporter die EU-Führer dazu auf, Sanktionen gegen Südkorea und Ägypten zu erlassen.“
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Aktive Fans, engagierte Nervensägen
Christoph Biermann (taz) über aktive Fans, engagierte Nervensägen – Spiegel-Recherche über den TV-Plan der DFL – Milton Tembo (SSV Ulm) ist HIV-positiv (FR) – „Winfried Schäfer ist in Kamerun ein Gott“ (SZ) –„auf vieles waren die Portugiesen vorbereitet, nur nicht auf ihre Landsleute“ (FAZ) – Fußball zieht Sponsoren an – der Niedergang des VfB Leipzig (mehr …)
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„Wenn jemand so lügt, wie in dieser Geschichte gelogen wird, dann macht es wenig Spaß mit solchen Leuten.“
„Es ist die große Frage, ob wir einen Spieler mit solch einem Charakter überhaupt verpflichten wollen.“
„Dortmund versucht, ihn mit Geld zuzuschütten, und ein Spieler mit labilem Charakter ist davon leicht zu überzeugen.“
„Ich verliere vielleicht mal wieder den Glauben an die Menschheit. Und wenn ich das tue, dann wird es gefährlich. So gesehen, kann ich Kehl nur raten, sich an die Wahrheit zu halten.“
„Wenn er nicht kommt, wird das transferrechtlich ein Riesentheater geben. Dabei schaut er nicht gut aus.“
„Und so einer soll bei der WM für Deutschland die Kohlen aus dem Feuer holen? Na wunderbar.“
„Ich will mein Recht, nicht den Spieler.“
„Ich glaube, es geht [Kehl, of] in erster Linie um Kohle.“
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Werbetrommel
Jochen-Martin Gutsch (BLZ 30.4.) rührt die Werbetrommel. „Es ist nicht hübsch formuliert, aber man könnte sagen, dass viele bald richtig am Arsch sind. Breitner, Lattek, Netzer, Beckham, Strunz. Matthäus sowieso. Noch acht Tage. Dann kommt Effe. Dann stellt er mal einiges klar. Effe war früher einer der besten Mittelfeldspieler der Welt. Er konnte wunderbare lange Pässe schlagen, und man solllte das nicht vergessen, wenn man am 8. Mai in einen Buchladen geht und seine Autobiografie kauft. Im Buch geht es nämlich nicht um wunderbare lange Pässe, sondern um Abrechnungen. Um Unwahrheiten. Um Zündstoff. Und all die Typen, die ihn angemacht haben, kriegen jetzt einen vor den Latz, sagt Effe.“
You are the Paul Breitner of the Nineties
Spiegel-Online schreibt einen fiktiven Ausschnitt: Beim ersten Training in Doha traf ich unter anderem auch wieder auf Mario Basler, den ich noch nie hatte ausstehen können. Plötzlich aber waren wir aufeinander angewiesen. Bei der Begrüßung durch den Scheich, dem der Club gehörte, standen wir nebeneinander auf dem Rasen. Oh Effe-ndi! I admire your famous Eleven-Meter. You are the Paul Breitner of the Nineties!, sagte der Scheich, schüttelte mir die Hand. Die Unverschämtheit ließ ich unbeantwortet. Schon da kamen mir erste Zweifel an diesem Regime. Der Scheich wandte sich Basler zu. I admire your banana, sagte der Scheich zu ihm. Ich konnte sehen, wie es bei Basler zuckte. Beim Duschen fragte er mich, ob der Scheich ihm damit ein eindeutiges Kompliment ausgesprochen hätte. Er meint deine Flanken!, belehrte ich ihn. Beruhige dich!
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Sonntags-Spiele in München und Leverkusen
Leverkusener können ihre Euphorie nicht mehr lange unterdrücken – Bayern bleiben nach Sieg bescheiden und wollen eine Zugabe – Lars Ricken, ehemaliger Teenie-Star, nun erwachsen und nachdenklich – Werder Bremen, die Fußball-Familie, reagiert trotzig und erfolgreich auf Nebenbuhler – Johan Micoud, Star von Werder Bremen und in Frankreichs Nationalteam verschmäht, im Spiegel-Interview
Bayer Leverkusen – Schalke 04 3:1
Ein Urbayer bleibt weiter stoisch im Rheinland des Lächelns
Thomas Klemm (FAZ 11.11.) befasst sich mit Leverkusener Rausch und Nüchternheit: „An der guten Laune kommt in Leverkusen derzeit keiner vorbei. Nicht nur, weil an diesem Dienstag im Rheinland die närrische Zeit beginnt, sondern vielmehr, weil das Umfeld nach einem Jahr der Depression wieder völlig in den Bundesligaklub vernarrt ist. So wimmelt es auch im Stadionheft seitenweise von Überschriften, in denen sich der Verein selbst bejubelt. Seite eins: Eine Überdosis Emotionen. Seite drei: Eine unglaubliche Geschichte. Seite sieben: Der Aufschwung. Seite zwölf: Voll im Soll. Wir sind wieder wer, lautet die vielstimmige und doch immergleiche Botschaft bei Bayer Leverkusen, das im vorigen Jahr gerade so dem Abstieg entronnen und in dieser Saison drauf und dran ist, sich dauerhaft in der Tabellenspitze festzusetzen. Selbst die Spieler berauschen sich an ihrem mal leidenschaftlichen, mal abgeklärten Auftreten. Mit strahlenden Augen sagte Daniel Bierofka, wir sind gut drauf, strahlen Selbstbewußtsein aus. Robson Ponte grinste in die Fernsehkamera und betonte: Wir wollen oben bleiben. Alle finden alles ganz prima in Leverkusen. Alle? Ein Urbayer bleibt weiter stoisch im Rheinland des Lächelns. Er lobt dosiert, kritisiert punktuell.“
Christoph Biermann (SZ 11.11.) fügt hinzu: „In Leverkusen, wo man neumodischem Gedöns stets aufgeschlossen ist, wird gerade das Fußballgucken der Zukunft getestet. Das Fraunhofer Institut für Software- und Systemtechnik stellt dazu kleine Taschencomputer für die mobile Sportinformation von morgen zur Verfügung. Irgendwann sollen dazu nicht nur Zwischenstände von anderen Plätzen, ständig aktualisierte Tabellen und Videos zur genaueren Betrachtung von Spielszenen gehören, interaktiv ist wieder einmal das Zauberwort. „Die Nutzer können ihre Meinung äußern und an Befragungen teilnehmen“, heißt es in einer Presseinformation, und dazu wäre am Sonntag eine gute Gelegenheit gewesen. Hätte man die mitgereisten Fans von Schalke 04 in der BayArena mit Personal Digital Assistants ausgerüstet, hätten sie mit deren Hilfe wahrscheinlich ordentlich auf Schiedsrichter Heribert Fandel eingeteufelt. Die Gelsenkirchener fühlten sich vom Referee dramatisch benachteiligt und um den Lohn für eine gute Leistung gebracht.“
Bayern München – Borussia Dortmund 4:1
Eher ein Pokalspiel der ersten Runde ein Klassiker der Bundesliga
Michael Horeni (FAZ 11.11.) stellt fest, dass die Bayern auf dem Teppich bleiben: “Es war ein Ergebnis, wie es die Bayern genießen – 4:1 gegen Borussia Dortmund. Das wäre in den letzten Jahren ein wie in Stein gemeißeltes Resultat gewesen, das Uli Hoeneß und Karl-Heinz Rummenigge kaltlächelnd vorgezeigt hätten, um jede Krisendiskussion über Spielweise, Führungskräfte und Investitionspolitik mit rekordmeisterlichem Herrschaftsbewußtsein zu ersticken. Wer siegt, hat recht. Und wer hoch siegt, erst recht. Zumal wenn es gegen den größten nationalen Rivalen jenseits der Stadttore geht. Da es am Sonntag auch leicht sechs oder acht Treffer für die Bayern hätten sein können, war den Fakten nach alles gerichtet für den Münchner Triumph über die Kritik. Aber nichts war’s nach dem 4:1-Sieg im Olympiastadion mit der bayerischen Selbstherrlichkeit. Wieso sollte ich erleichtert sein? fragte der Vorstandsvorsitzende Rummenigge dann auch leicht verwundert nach einem kinderleichten Erfolg, der nur eine erste Etappe auf dem Weg zurück zum alten Selbstverständnis sein konnte. Die mit Ricken, Koller und Wörns verstärkte Jugend- und Regionalligamannschaft der Borussia war vermutlich seit Jahrzehnten die unerfahrenste Dortmunder Auswahl, die sich nach München zum Verlieren aufgemacht hatte. Es war ein wichtiges Spiel, okay. Wir haben gewonnen, wunderbar, sagte Rummenigge emotionslos über ein ungleiches Duell, das eher an ein DFB-Pokalspiel der ersten Runde als an einen Klassiker der Bundesliga erinnerte.“
Eindruck von Besorgnis und Hektik
Philipp Selldorf (SZ 11.11.) beobachtet Ottmar Hitzfeld: „Wie ernst die Lage beim FC Bayern war, zeigte sich, als Ottmar Hitzfeld die ersten Tore seiner Mannschaft bejubelte. Im Zustand der Bedrohung haben seine Freudenbekundungen mit der gewöhnlichen spontanen Begeisterung auf der Trainerbank – Arme hochreißen, Tooor schreien, befreit in die Luft hüpfen – nichts mehr gemein. An solchen Abenden wie am Sonntag wirkt es, als ob Hitzfeld in einem strengen Korsett steckt, das Rumpf und Armen keinen Spielraum zur Bewegung lässt. Er nestelt zunächst unsicher am Mantelsaum, reißt dann eine Hand, zur Faust geballt, ruckartig nach oben, und haut schließlich ein paar Mal im Stakkato in die Luft wie ein Richter, der mit dem Hämmerchen auf den Tisch klopft. Das Ganze macht mehr den Eindruck von Besorgnis und Hektik als der Erlösung vom akuten Stress.“
Günstling des Trainers
Richard Leipold (FAS 9.11.) porträtiert Lars Ricken, Borussia Dortmund: “Wenn Lars Ricken die jüngsten unter seinen Kollegen in den Blick nimmt, sieht er nicht nur Fußballspieler, die Freude am Kicken haben, sondern auch sich selbst. Besonders in Salvatore Gambino, einem 19 Jahre alten Mittelfeldspieler, erkennt er sich wieder. Es ist bemerkenswert, wie er schon jetzt die Bälle fordert. Auch Ricken hat in diesem Alter die Bälle gefordert – am Abend in Mailand, und am nächsten Morgen ist er mit der ersten Maschine zurück nach Dortmund geflogen, hat auf dem Großmarkt gefrühstückt und anschließend in der Schule eine Klausur geschrieben. Die Fans lagen ihm zu Füßen, und alles ging wie von selbst vor acht Jahren, als eine Reihe von Stars verletzt war und Borussia Dortmund mit Ricken in der Spitze trotzdem deutscher Meister wurde. Sein Aufstieg schien unaufhaltsam. Mit einem technisch perfekten Tor im Finale der Champions League 1997 gegen Juventus Turin machte Ricken sich im Dortmunder Fußball unsterblich, obwohl sein Sportlerleben noch vor ihm lag. Er war unbekümmert und dachte nicht darüber nach, was mit ihm geschah. Ricken schickte sich an, ein kickender Popstar zu werden wie geschaffen für den Starschnitt der Zeitschrift Bravo. In jener Zeit zeichnete ihn eine Unbeschwertheit aus, die alles leichter aussehen läßt, als es ist. Diese Unbekümmertheit zu erhalten, rät Ricken den Teenagern in der aktuellen Mannschaft. Der inzwischen 27 Jahre alte Profi weiß, wie schwer es ist, die Leichtigkeit des Seins festzuhalten. Ihm selbst ist es nicht gelungen. Dem Aufstieg folgte der Fall. Mitte Zwanzig wirkte Ricken ausgebrannt – in einem Alter, das bei Fußballspielern als Beginn der Blütezeit gilt. Kaum hatte er die Dortmunder Zeit seines internen Konkurrenten Andreas Möller ausgesessen, verpflichtete der Klub Tomas Rosicky für Rickens Wunschposition im offensiven Mittelfeld. Von der Weltmeisterschaft in Japan und Südkorea kehrte Ricken ohne Einsatz zurück; der Körper sandte dennoch Warnsignale aus und erzwang schließlich Pausen, die ihn im Konkurrenzkampf mit hochdekorierten Stars zurückwarfen. Trainer Matthias Sammer mußte die großen Pläne verwerfen, die er mit Ricken hatte. Der Fußball-Lehrer hatte sich vorgenommen, den gebürtigen Dortmunder nach der WM zum Kapitän zu machen. Doch verletzt und frustriert fiel Ricken als Führungskraft aus. Er gilt als Günstling des Trainers, der als Spieler sein Zimmergefährte war; in der Mannschaft sei er ein Einzelgänger, heißt es, ein Spieler, der sich außerhalb der Arbeitszeiten abschottet. Die Zielgruppe der Bravo spricht er längst nicht mehr an. Aber auch in vielen Sportteilen fühlt er sich nicht mehr gut aufgehoben.“
Trotz in Bremen
Nicht nur Martin Hägele (NZZ 11.11.) findet Gefallen an Werder Bremen: „Das Urteil des Hannoveraner Coachs Ralf Rangnick haben sie im Nachbarland mit grosser Freude vernommen: „Bremen ist neben Stuttgart und Leverkusen im Moment das Mass aller Dinge.“ Solche Sätze brauchen die Menschen in Bremen zurzeit dringend – schliesslich muss im und ums Weserstadion wieder einmal ein Minderwertigkeitskomplex verarbeitet werden. Werder sei nur Ausbildungsstätte oder Durchlaufstation für hochkarätige Professionals, heisst es in dem kleinen Stadtstaat. Und als vor fünf Wochen der Goalgetter Ailton und der serbische Internationale Kristajic, zwei der Besten, für die nächste Saison von Schalke 04 weggekauft wurden, weil der Rivale aus dem Revier das Doppelte an Gehalt geboten hatte, schien wieder einmal die grün-weisse Welt unterzugehen. Die Ohnmacht der Bremer Kaufleute, mit den Grössen der Branche wirtschaftlich nicht mithalten zu können, dauerte allerdings nicht lange. Es heisst ja auch, dass Werder Bremen eine riesige Familie sei und schon viel überstanden habe. Auf den Verlust ihrer zwei Leistungsträger im Frühsommer reagierten die Bremer mit Trotz (…) In den Himmel jubeln, das passt nicht zu diesen Hanseaten. Man braucht schliesslich gar nicht oft auf Werders Erfolgsgeschichte zu schauen. Schon auf den zweiten Blick erkennt der Betrachter, dass es sich hier überwiegend um Professionals handelt, die im Verlauf ihrer Karriere bisher zu kurz gekommen sind. Und diese These lässt sich am leichtesten aus der Vita der Mittelfeldspieler ablesen – derzeit das Schmuckstück des Vereins. Die zwei defensiven Kräfte Baumann und Ernst zählen bei Teamchef Völler zur Verschiebemasse der DFB-Auswahl, zwei fleissige Arbeiter und Kämpfer; beide sind nicht übermässig schnell. Der Ungar Lisztes ist einst von Stuttgart nach Bremen geflüchtet, weil er im Schwabenland aus dem Schatten von Balakow nicht herauskam. Und Regisseur Micoud fühlt sich als ein Opfer der Grande Nation. Es gibt auf seiner Position zu viel Weltklasse im Team von Europameister Frankreich – Zidane, Vieira, Pires, und Co. Und zudem scheint der Coach Santini offensichtlich nicht viel von ihm zu halten. Bei Werder Bremen aber kann der 30-Jährige, den Parma vor eineinhalb Jahren verkaufen musste, seinen ganzen Esprit ausstrahlen. Diese Kreativität steckt auch die Kollegen an. – So konstant schön und erfolgreich funktionierte das norddeutsche Ensemble zuletzt, als Werder noch als Otto Rehhagels Reich galt – gut dreizehn Jahre lang.“
Was mühelos aussieht, ist die Ernte harter Arbeit
Spiegel-Interview mit Johan Micoud, Werder Bremen
Spiegel: Seit der italienische Startrainer Arrigo Sacchi Ende der achtziger Jahre beim AC Mailand das offensive Pressing einführte, ist der Raum für Spielgestalter, wie Sie einer sind, immer kleiner geworden. Wie entziehen Sie sich dem Zugriff der athletisch immer besser ausgebildeten Jäger?
JM: Den Regisseur der alten Schule, der auf dem Platz alle Zeit der Welt hatte, den gibt es nicht mehr. Dennoch: Mir reicht der Raum, den ich in der Bundesliga vorfinde. Nicht nur die Zerstörer haben sich im Fußball fortentwickelt. Ich selbst habe viel Krafttraining gemacht, für die Beine, auch für den Oberkörper.
Spiegel: Das heißt, den Vormarsch der destruktiven Kraftmeier bekämpfen die eleganten Ästheten, indem sie sich selbst zu robusten Athleten wandeln? Ist das nicht traurig?
JM: So schlimm ist es auch nicht. Die körperlichen Anforderungen sind nun mal höher als vor zwölf Jahren, als ich bei AS Cannes anfing. Aber es gibt auch heute Mannschaften, die beispielhaft darin sind, wie man das Spektakel immer wieder neu kreiert: Manchester United etwa oder Real Madrid. Diese Teams versuchen ständig in Ballbesitz zu sein. Das ist auch bei Werder Bremen unser Ziel.
Spiegel: Der Schriftsteller Gabriel García Márquez hat auf die Frage, wie man es schaffe, einen Roman wie Hundert Jahre Einsamkeit zu schreiben, geantwortet: Acht Stunden am Tag auf dem Hintern sitzen. Und das zwei Jahre lang. Ist kunstvoller Fußball letzten Endes auch nur das Ergebnis von Disziplin?
JM: Dem Fußballer geht es ähnlich wie dem Autor: Was mühelos aussieht, ist die Ernte harter Arbeit. Die Kunst besteht darin, dass man die Anstrengung nicht erkennt.
Spiegel: Das gelingt den Franzosen mehrheitlich besser als den deutschen Kickern. Worin besteht das Geheimnis der französischen Fußballschule?
JM: Im Mittelpunkt der Ausbildung steht bei uns immer der Teamgedanke. Wir haben früh verinnerlicht: Nur wer seine Fähigkeiten mannschaftsdienlich einsetzt, bringt sein besonderes Talent wirklich zur Geltung. Erst dann, in einer funktionierenden Mannschaft, fallen die herausragenden Spieler richtig auf.
Spiegel: Sie haben in Bremen schon einen Reporter geohrfeigt und die Taktik des Trainers kritisiert. Einmal sollen Sie eine Lauftrainingseinheit geschwänzt haben. Müssen Spielmacher-Typen eigentlich immer auch ein wenig kapriziös sein?
JM: Als ich das einzige Mal beim Training fehlte, war ich am Bein verletzt. Zweitens: Mit Boulevardreportern gibt es halt manchmal Probleme, aber diese Geschichte ist vergessen. Und wenn ich, drittens, mal etwas sage, denke ich dabei immer an die Mannschaft. Ich mische mich ein, wenn ich der Ansicht bin, die Dinge laufen in die falsche Richtung.
Spiegel: In Deutschland scheint es eine Sehnsucht nach so genannten Chefs auf dem Rasen zu geben. So hat man bei Bayern München den Eindruck, dort solle Michael Ballack in die Rolle eines Wortführers gedrängt werden, die ihm nicht liegt. Glauben Sie, dass er sich unwohl fühlt?
JM: Ich kenne es aus Frankreich so, dass eine Mannschaft unter sich ausmacht, wer den Chef gibt. Oft ist es der Spieler, der vor der Abwehr spielt – wie früher bei uns der Nationalmannschaftskapitän Didier Deschamps. Wenn jedoch auf Ballack von außen Druck aufgebaut wird, dass er den Boss spielen soll, ist das nicht authentisch. In Deutschland sagt man leicht: Oh, das ist der Spielgestalter, also muss er viel reden.
Wir bitten um eine Spende für die freistoss-Kasse, und empfehlen Sie uns. Vielen Dank!BankverbindungDeutsche Bundesbank (Filiale Gießen)BLZ: 513 000 00Nr.: 513 015 03Empfänger: indirekter-freistoss – Projekt-Nr. 6000 0208
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Gemischte Themen: VfB vor dem Einbruch? – Hinkel, bescheidener Nationalspieler – Kahn verpasst Meisterfeier
Es ist zu schnell gegangen, viel zu schnell
Nach zwei sieglosen Spielen in Folge fragen sich die Beobachter, ob beim Tabellenzweiten VfB Stuttgart ein Einbruch bevor steht. Martin Hägele (NZZ 29.4.) schreibt dazu. „Plötzlich gab es Pfiffe gegen eine Mannschaft, die über neun Monate nur gestreichelt worden war. Zumindest zum Teil hat Trainer Magath Recht, wenn er darüber schimpft, dass innerhalb seiner Mannschaft viel zu viel über den Erfolg diskutiert werde. Und Erfolg definiert sich im Schwabenland neuerdings über das Wort Champions League, genauer ausgedrückt mit Platz zwei in der Bundesliga, der am Ende der Saison zur direkten Qualifikation für die europäische Königsklasse ausreichen würde. Wenn man bedenkt, dass diese Mannschaft zu Beginn der Runde das Ziel mit einem einstelligen Tabellenplatz definiert hatte, dass sie durch den UI-Cup in den Uefa-Cup- Wettbewerb vorgestossen und dort erst am Finalisten Celtic Glasgow gescheitert war, oder wenn man noch einmal darüber nachdenkt, dass auf dem Cannstatter Rasen langfristig eine Mannschaft für die Zukunft aufgebaut werden sollte, dann begreift man vielleicht, warum jetzt alle im VfB-Umfeld spinnen. Es ist zu schnell gegangen, viel zu schnell. Immerhin hat das jüngste Ensemble der Bundesliga mittlerweile die meisten Kilometer auf dem Tacho, und auf die Teenager und jungen Twens um die Internationalen Kuranyi, Hinkel und Co. ist innerhalb eines halben Jahres mehr eingestürzt als über manchen ihrer Vorgänger eine ganze Karriere lang. Trotzdem ist dies typisch für den Verein für Bewegungsspiele von 1893, weil man in diesem Klub schon immer sehr schnell verwöhnt war und sich aller Historie zum Trotz sehr gern für etwas Besseres gehalten hatte. An der Psychose, sich mit dem superreichen Nachbarn FCBayern auf Dauer messen zu können, ist schon der ehemalige Präsident Mayer-Vorfelder kläglich gescheitert. Nun sind es die Visionen, die Stuttgarter könnten sich mittels der Champions League auf einen Schlag ihrer Probleme entledigen: Mit einem zweistelligen Millionengewinn liessen sich nicht nur die 16 Millionen Euro Schulden auf eine Nichtigkeit herunterfahren; der VfB könnte obendrein die Gehälter seiner Himmelsstürmer an den Markt anpassen und mit einem hauptamtlichen Vorstandsvorsitzenden die künftige VfB KG auch von der wirtschaftlichen Struktur her auf höchster Ebene konkurrenzfähig machen. Und last, but not least liesse sich auch die Umwandlung des Leichtathletik-Tempels in eine moderne Fussballarena bewirken. Verdammt viel auf einmal, dumm nur, dass nicht all die Kaufleute und Edelfans aus der Wirtschaft im Vorstand zu den letzten vier Spielen anzutreten haben, sondern die unverhoffte Möglichkeit auf einen Lottogewinn eben jene Professionals belastet, die auf den Platz dürfen.“
Kraft Natur bescheiden und zurückhaltend
Oliver Trust (Tsp 29.4.) porträtiert Andreas Hinkel. “Es klingt seltsam für einen Nationalspieler, der bei seinem Verein, dem VfB Stuttgart, seit Jahren zur Stammformation gehört. Andreas Hinkel aber wirkt auf den ersten Blick wie einer, dem man über die Straße helfen möchte. Er musste Journalisten sogar mal versichern, er lese durchaus auch mal ein Buch. Jetzt ist er im Kader von Teamchef Rudi Völler für das Fußball-Länderspiel gegen Serbien und, aber richtig voll genommen wird er von vielen immer noch nicht. Das kann damit zusammenhängen, dass Hinkel nicht viel erzählt. Wer mit ihm sprechen will, muss ihm eine SMS schicken. Beim Frisör ist er schneller draußen als andere. „Die Haare färben gäb’s bei mir nicht“, sagt er fast empört. Der 21-Jährige spielt Fußball, still und leise. „Dass ich so bin, hat mit Regeln der Jugend des VfB Stuttgart zu tun. Nasenpflaster, Haarreifen, lange Haare, rote, weiße Fußballschuhe, das wollte keiner sehen“, sagt Hinkel. Der Rest an Zurückhaltung ist das Ergebnis seiner Herkunft. „Ich bin Schwabe, sagt er, als reiche das zur Entschlüsselung seines Charakters. Wobei, die Schwaben sind natürlich quasi kraft Natur eher bescheiden und zurückhaltend.“
Geil gemeinsam gefeiert
Jan Christian Müller (FR 29.4.) wundert sich über Oliver Kahn, der die Meisterfeier deswegen verpasst haben will, weil er im Flugzeug Kopfhörer getragen habe. “Über 30-Jährige mit Anfang-20-Jährigen – das gehört zur gängigen Praxis, wie wir wissen, und Discman-Hören im Flugzeug oder Bus sowieso. Sogar so intensiv, dass man doch glatt den Treffpunkt für die improvisierte Meisterfeier verpasst, von dem ganz zufällig ungefähr sechs Millionen Menschen wissen, weil der Manager den Ort der Zelebration via Fernsehen noch vor Sonnenuntergang vom International Airport Brunswick in die Republik getragen hat. Olli Kahn stieg da gerade im Hintergrund ins Flugzeug. Zum Glück gibt es in München diese sympathische Verweilstätte namens P 1, der Ort, wo Effe zu seiner wilden Münchner Zeit gern mal den Cheffe raushängen ließ und dafür später mit schlappen 147 000 Mark belangt wurde. Jedenfalls haben sich Käpt‘n Kahn und seine Kumpel vom FC Bayern dort in der Nacht zum Sonntag ja doch noch getroffen und sich gewiss ausgelassen in den Armen gelegen. Gute Kameraden bringt so schnell nichts auseinander. Auch nicht dicke Ohren und ein Satz Kuschelrock. Und vorher? Alles ganz geil, hat Kahn noch auf dem Wolfsburger Spielfeld gesagt. Geil, geil, geil. Muss ein geiler Rückflug gewesen sein. Geil gemeinsam gefeiert.“
Gewinnspiel für Experten
Ballschrank
Husar aus Hanau, musikalisch kaum sterblich
Die Farbe Weiß dominierte am vergangenen Montag den Blätterwald – allerdings war es nicht auf der unbefleckten Brust in Island gelüfteter Nationaltrikots zu finden, sondern in den aufgerissenen Augen des verbal Amok laufenden Aufsehers der deutschen Fußball-Nationalmannschaft. Nach Meinung der in Ball und Feder verliebten Journaille hat die Tirade des Teamchefs eine Qualität erreicht, die den Vergleich mit dem legendären Wortschwall von Giovanni Trappatoni („Was erlaube Struuunz?“) nicht zu scheuen braucht. Doch was wollte Völler sagen? Doch nicht etwa „Ich habe fertig“?
Die Textauslegung schlug am ersten Werktag nach dem Ausbruch des Rhetorik-Geysirs von Reykjavik hohe Wellen und verfrachtete die Aussagen des Bundestrainers dorthin, wo sonst nur die anderen Verfassungsorgane der Republik auftauchen: in die Leitartikel der Qualitätspresse. Dort, in den Deutungseliten des Mediensports, tat sich ein noch näher zu untersuchender Graben zwischen Völler-Kritikern und -Unterstützern auf.
Gänzlich andere Reaktionen fördert jedoch ein stets unterschätztes Medium zu Tage, das in schöner Regelmäßigkeit für veritable Perlen des Fußball-Journalismus sorgt: der Hörfunk. Anstelle einer repräsentativen Untersuchung sei hier lediglich ein zwar willkürlicher, aber doch aussagekräftiger Bericht aus dem Sendegebiet des Hessischen Rundfunks (qua Herkunft eine Art „Haussender“ des polternden Protagonisten) überliefert. Am Tag nach dem „peinlich, peinlich“-Auftritt (FAS) eröffnete der öffentlich-rechtliche Sender seiner Hörerschaft eine Standardsituation wie nach einer Schwalbe von Andreas Möller. „Was halten Sie von der Reaktion Rudi Völlers nach dem 0:0 gegen Island?“ lautete die Frage an ein Fußball-interessiertes Publikum, das fortan (zwischen 13 und 15 Uhr, also gerade nach einem für die Region obligatorisch frugalen Sonntagsmahl) den Telefonhörer gar nicht mehr aus der Hand legen wollte.
Was sich dann den Weg über den Sender bahnte, offenbarte Aufschlussreiches über die Sympathiewerte des Bundestrainers – und den Musikgeschmack der Fußballfans. Nahezu ausnahmslos bekundeten die engagierten Hörer ihre Solidarität mit einem „völlig zurecht ausgerasteten“, „nur deutlich genug gewordenen“ oder „total richtig liegenden“ Nationaltrainer. Das allein war freilich wenig überraschend in einem Bundesland, das noch in der Mitte der Woche mit dem Oberhaupt des Sendegebiets sympathisierte, das gerade den Beamten eine saftige Erhöhung der Wochen- wie Lebensarbeitszeit in Aussicht gestellt hatte.
Den Blick auf die geschundene Fußball-Seele frei legte erst die bemerkenswerte Auswahl der Musikstücke, die als Belohnung für eine öffentliche Stellungnahme zur Völler-Attacke ausgesetzt war. Zunächst schien „Ich denk´ an dich“ der Normalos von „Pur“ noch dem Vokuhila-Mainstream geschuldet, danach wirkte die Whitney-Houston-Schnulze „I will always love you“ gleich auf den ersten Ton völlig fehl geleitet. Andererseits: wird mit beiden Titeln nicht das mehr oder weniger herzliche Verhältnis in der „deutschen Fußballkritikerfamilie“ (FAZ) beschrieben? Im Supporter-Soundtrack folgten alsbald Herbert Grönemeyers Sinnsucherballade „Mensch“ („Momentan ist richtig, momentan ist gut. Nichts ist wirklich wichtig, nach der Ebbe kommt die Flut“). Wer dachte da nicht an den depressiven Eisbären aus dem Video-Clip – ein potenzielles Völler-Versteck? Höhepunkt der Hörerwünsche waren schließlich der überstrapazierte Queen-Gassenhauer „We are the Champions“ und der 80er-Retro-Weichspüler F.R. David mit „Words don´t come easy“ (dabei ist jedoch nicht zu vermuten, dass durchschnittliche HR3-Hörer mit dem inoffiziellen Popliteraten-Motto „Irony is over“ vertraut sind). Es scheint, als habe die Sonntagsnachmittagshörerschaft echte Defizite im fußballbezogenen Liederkatalog. Welch grandiose Musikauswahl wurde in dieser Stunde der akustischen Volksherrschaft verpasst? Wie subtil hätte man sich gegen die besserbezahlten Besserwisser äußern können? „Gute Freunde kann niemand trennen“ (wider Ball-Guru Franz Beckenbauer), „Mexico mi amor“ (remember Peter Alexander, 1986) oder „Football is coming home“ (als politisch-inkorrekter Willkommensgruß für McBertis und seine Schotten).
Eine auditive Katharsis für den geschundenen Augen- und Ohrenzeugen stellte sich erst mit einem Tag Verspätung ein: aus dem Radio schallte wieder der Völlersche Haussender, es lief die Sendung „Madhouse“. Die Moderatorin quengelte gelegentliche Anrufer mit Fußball-Quizfragen zu EM-Qualifikation, Teamchef-Herkunft und verbalen Blutgrätschen… doch dann geschah das Wunder – ein brillanter Mix brachte es auf den Punkt wie ein energischer Schiedsrichterpfiff: die längst viel zu oft gespielte Huldigung an den „hombre sehr tüchtig“ aus dem WM-Jahr wurde kontrastiert mit den harschen Worten des Silberhaarigen. Kein Kommentar, keine Interpretation scheint ein besseres Tackling zu liefern, als das Duell am Mischpult zwischen dem „Stürmer, sehr berüchtigt“ und dem O-Ton aus Reykjavik:
„… er hält den Ball immer flach“ – „Ich kann diesen Scheißdreck nicht mehr hören“
„… er ist der beste Mann“ – „Ich wechsle den Beruf, das ist besser“
„… ein Rudi Völler, es gibt´s nur ein Rudi Völler“ – „Nein, nein, nein“
Angesichts der flächendeckenden medialen Tiefausläufer birgt vielleicht der Blick auf einige versöhnliche Zeilen etwas Hoffnung für die nächsten Tage – und nebenbei auch die richtige Einstellung für das wichtige Spiel am Mittwoch in Dortmund. Schließlich hat Rudi Völler, der so lange still gebliebene Husar aus Hanau, die Erfolg verheißenden Worte aus einer fußballerisch wie musikalisch kaum sterblichen Epoche selbst im Munde geführt:
Der Wind im Colloseum singt Lieder aus vergang´ner Zeitund durch den Titus-Bogenweht leise die Unendlichkeitdie Blumen einer Treppe, die in den Himmel führt.Wir finden uns von selbst,als hätten wir´s gespürt.
Doch diesen Titel („Sempre Roma – für immer Rom“ – Udo Jürgens und die deutsche Fußball-Nationalmannschaft, 1990) hat sich am Wochenende niemand gewünscht.
Christoph Bieber hört Radio und ist umsichtiger Libero des ZMI-Teams.
Ballschrank
Arminia Bielefeld – VfB Stuttgart 0:1
“Selbst Arbeitssiege des VfB glänzen“, schreibt Peter Heß (FAZ 4.3.). “Der VfL Bochum? Gerät langsam in Abstiegsgefahr. Hansa Rostock? Zittert schon um den Klassenverbleib. Werder Bremen? Ist gerade aus den Uefa-Cup-Rängen herausgerutscht: Der VfB Stuttgart ist nach 23 Spieltagen der Fußball-Bundesliga der letzte Verein, der noch Überraschungsmannschaft genannt werden kann – wenn man die Bezeichnung unter positiven Vorzeichen verwendet. Das 1:0 auf der Bielefelder Alm hat den dritten Tabellenplatz so weit gefestigt, daß die Teilnahme an der Qualifikationsrunde zur Champions League näher rückt. Fünf Punkte trennen Schalke von dem begehrten Platz, den der VfB einnimmt. Da ist es wahrscheinlicher, daß die Stuttgarter Meister Dortmund auf Rang zwei angreifen, der nur einen Punkt voraus liegt. Oder bricht auch die letzte Überraschungself noch ein? Die Bielefelder Vorstellung sprach eindeutig dagegen. Die junge Mannschaft trotzte ungünstigen Umständen auf spektakuläre Weise. Sie zeigte eine körperliche Robustheit und eine spielerische Klasse, die in Silvio Meißners Siegtor nur ungenügend Ausdruck fand. Dabei lag das Ausscheiden im Uefa-Cup gegen Celtic Glasgow nur drei Tage zurück. Außerdem fehlten mit Krassimir Balakow der erfahrene Lenker der Rasselbande und mit Torwart Timo Hildebrand der Rückhalt der Abwehr. Aber im Höhenflug lassen sich die Jungen von Kraftverlust und anderen Widrigkeiten kaum beeindrucken. Andreas Hinkel, Aliaksandar Hleb sowie in der ersten Halbzeit Kevin Kuranyi und Michael Mutzel trugen durch Selbstbewußtsein und Ballfertigkeit zur Dominanz des VfB genauso bei wie die erfahrenen Bordon, Soldo und Meißner.“
Hamburger SV – Hertha Berlin 1:0
Zum Hamburger Aufschwung bemerkt Frank Heike (FAZ 4.3.). „Am Beispiel des Hamburger SV ist gerade zu beobachten, wie weit eine Mannschaft kommen kann, wenn sie sich an das taktische Konzept des Trainers hält und ihm vertraut. In den vergangenen 13 Partien hat der HSV nur einmal verloren. Das 1:0 am Sonntag abend gegen Hertha BSC Berlin vor 38.000 Zuschauern in der AOL-Arena beförderte die Hanseaten nun dahin, wo sie auch am Saisonende stehen möchten – auf Rang fünf. Es ist kein Zufall, daß ein Mann für den Aufschwung steht, der von Körpersprache und Physiognomie her eher an einen Studenten erinnert als an einen Fußballprofi. Doch seit der völlig unauffällige Marcel Maltritz im Mittelfeld der Hamburger rackert, läuft es beim HSV. Er und Collin Benjamin sind die Akteure, die dem Strategen Rodolfo Cardoso die schmutzige Arbeit abnehmen. Dahinter steht eine Viererkette, die sich trotz gelegentlicher Fehler als belastbar erweist (…) Jahrelang hat der HSV nun eingekauft und verkauft wie auf dem Basar, ohne zu einer vernünftigen ersten Elf zu kommen. Das Resultat hieß stets Mittelmaß. Diese Zeiten, die für einen Verein mit dem Anspruch des HSV verlorene Zeiten waren, könnten nun vorbei sein. Achtzehn Monate hat der Pragmatiker Jara gebraucht, um ein Team mit interner Hierarchie und klarer taktischer Ausrichtung aufzubauen: Die Abwehr muß funktionieren, um dem HSV seinen meist nicht schönen Minimalfußball mit vielen 1:0-Siegen zu ermöglichen. Derzeit steht sie. Daß irgendwann auch wieder gehäuft schönere Partien in der AOL-Arena zu sehen sein werden, darauf kann man seit dem Sonntag hoffen. Denn der HSV zeigte gegen die offensiv ausgerichteten Berliner sein bestes Heimspiel mit vielen interessanten Szenen – ohne die defensive Ausrichtung zu verlieren.“
Jörg Marwedel (SZ 4.3.) meint dazu. „Vermutlich war sie schon ein bisschen verstaubt, die Kassette mit dem guten, alten Gassenhauer. Aber dann hat sich der Stadionsprecher ein Herz gefasst und sie hervorgekramt. „We are the Champions“, dröhnte es nach dem 1:0 des Hamburger SV gegen Hertha BSC durch die AOL-Arena – als wolle man mit einem Schlag den Frust der jüngeren Historie fortblasen. Schließlich hatte der HSV nach einem ansehnlichen Auftritt nicht nur das erste von drei zu „Endspielen“ um einen Uefa-Cup-Platz erklärten Duellen gewonnen (die anderen folgen in Stuttgart und gegen Schalke), sondern war erstmals nach fast drei Jahren im tiefsten Mittelmaß auf jenem so kostbaren fünften Tabellenrang angekommen, der „vor der Saison noch Utopie war und jetzt realistisch ist“, wie Sportchef Dietmar Beiersdorfer mit Stolz feststellte. Die Kräfteverhältnisse haben sich also verschoben in jenem Bereich unterhalb der einsamen Bayern.“
Eine äußerst lesenswerte Vereinsskizze über Hertha von Friedhard Teuffel (FAS 2.3.). „Warum hätte ausgerechnet Hertha BSC der letzte deutsche Klub in einem europäischen Wettbewerb sein sollen, wenn auch Borussia Dortmund ausscheidet? Haben die Berliner ihren Kollegen aus Dortmund, München, Stuttgart oder Leverkusen irgend etwas voraus? Der Hertha fehlt ein Aroma. Bis in die siebziger Jahre haftete dem Klub noch ein schweres, einfaches Parfüm an. Da war die Hertha die „alte Dame“, eine Skandalnudel aus dem Berliner Wedding. Ein wenig verlottert und schnodderig trat sie auf, aber einen gewissen Charme konnte man ihr nicht absprechen. In den neunziger Jahren mußte sich die Hertha dann noch einmal an die Nabelschnur legen lassen, die zum Sportrechtevermarkter Ufa führte, sonst wäre sie aus dem Profifußball verschieden. Inzwischen hat der Klub zu wirtschaftlicher Selbständigkeit gefunden. Doch daraus ist noch keine Persönlichkeit entstanden. Die Hertha ist nicht mehr die alte Dame, sondern ein erwachsen werdender Junge, der von Hause ausziehen und in den europäischen Fußball einziehen will (…) Daß sie viele Schönwetterfans haben, die ganz anders als bei Stevens´ ehemaligem Klub Schalke 04 in schlechten Zeiten ihren Verein auspfeifen. Erfolgsgeile eben. Daß es in Berlin so viele Großmäuler gibt, die ihre eigene Meinung auch noch tagtäglich in den Boulevardpostillen B.Z., Berliner Kurier und Bild bestätigt finden. Ein Sieg, und sei er noch so glücklich, ist ein Triumph der Leidenschaft und Stärke, eine Niederlage ein Versagen. Als Stevens im November sagte, Hertha sei noch meine Spitzenmannschaft, wurde er dafür angefeindet. In welcher Stadt hätte der Trainer Kritik dafür einstecken müssen, einen Tabellenneunten nicht als Spitzenmannschaft zu bezeichnen? Aber was ist die Mannschaft? Ist sie richtig zusammengestellt, aufgestellt, eingestellt? Sie bestimmt das Image des Vereins, und genau das ist das Problem der Hertha. Die Mannschaft hat keinen Stil (…) Die Kluft, die sich zwischen der Tradition und dem sportlichen und wirtschaftlichen Potential für die nächsten Jahre auftut, macht dem Verein zu schaffen. So ist Hertha BSC ein Klub mit viel Vergangenheit, möglicherweise genauso viel Zukunft, aber ohne Gegenwart.“
“Marcelinho vergnügt sich nach Herthas Niederlage in Hamburg bis in den frühen Morgen“ Tsp
Gewinnspiel für Experten
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Spätausgabe
Ludger Schulze (SZ 10.3.) betreibt Archäologie der Feindschaft zwischen Real und Bayern: „Mit beiden Beinen, als wolle er eine brennende Zeitung austreten, sprang der kleine Mann auf seinen am Boden liegenden Gegner und landete mit dem Fußballschuh in dessen Gesicht, auf der linken Wange unterhalb der Schläfe. Erstaunlicherweise hielt der Knochen, Lothar Matthäus muss einen gesunden Kiefer haben. Nur ein paar Striemen und eine deftige Prellung trug der Mittelfeldspieler davon – und einen gehörigen Schrecken. ¸¸Der will mich umbringen, sei sein Gedanke gewesen, erzählte Matthäus eine Stunde nach dem Abpfiff, als der Real-Spieler abhob in der unverkennbaren Absicht, ihm eine schwere Verletzung zuzufügen. Es war ein himmelschreiendes Foul, wie man es selbst im Fußball nur alle zehn Jahre zu sehen bekommt, aber in diesem Spiel war es eine logische Konsequenz des schwelenden Hasses, der sich derart eruptiv entlud. Juanito, eigentlich ein feiner, nicht mal 1,70 m großer Dribbelfürst, der auch für die spanische Nationalmannschaft aktiv war, wurde für seine Untat von der Fußballjustiz für zwei Jahre aus dem Verkehr gezogen. Eine zivile Strafe blieb ihm erspart, weil Matthäus damals im April 1987 keine Anzeige erstattete. (…) Die tiefe, fast verschüttete Ursache ist verbunden mit dem 5. August 1980. Direkt aus dem Sommer-Urlaub kommend traten die Madrilenen zu einer Begegnung im Olympiastadion an, die als ¸¸Freundschaftsspiel deklariert war. Vor 30 000 Zuschauern wurden die Weltstars in Weiß um den spanischen Nationalmittelstürmer Santillana vorgeführt, die Tore fielen in so kurzen Abständen, dass der Schiedsrichter Mühe hatte, alles korrekt zu notieren. Bayern-Rammbock Dieter Hoeneß ließ sich zur Halbzeit auswechseln, nachdem er bereits drei Treffer erzielt hatte. Da stand es 7:0, was laut SZ-Bericht ungenügend war, weil vor allem Dremmler und Kraus einen zweistelligen Pausenstand versäumten. Danach schickte Trainer Pal Csernai seine Reserve aufs Feld, die am Ende 9:1 obsiegte – ein Ergebnis, das den diplomatischen Usancen Hohn lacht, weil eine solche gegnerische Schwäche unter Spitzenklubs in Trainingsspielchen nicht ausgenutzt wird. Gut möglich, dass die Spanier, die mit allem Recht als überaus stolz und ehrpusselig gelten, das nackte Resultat längst vergessen haben, Reals kollektives Unterbewusstsein aber hat die Demütigung keineswegs verdrängt. Als Speerspitze des permanenten Rachefeldzuges hat sich bis heute Marca bewährt, jene Zeitung, die den für zwei Spiele gesperrten Real-Spieler Roberto Carlos jüngst beglückwünschte, dass er ¸¸nicht in die Gaskammer geschickt worden sei. Inzwischen hat das Blatt den Boden blanken Wahnsinns verlassen und dafür die Räumlichkeiten des FC Bayern betreten. In der Säbener Straße 51 haben sie unter einer Treppe einen neuen Skandal entdeckt. An diesem profanen Ort versteckt steht ein 170 cm großes, 110 cm breites und 67 Kilo schweres Ungetüm, die Trofeo San Bernabeu, ein Geschenk Reals an den Gewinner seines Jubiläumsturniers. Dies allein ist ein Affront. In die Nähe eines Kriminalakts aber rückt die Sache offenbar dadurch, dass die ¸¸bestia negra sich nicht geniert, wie Marca notiert hat, ein Andenken von Atletico Madrid in die richtige Pokal-Vitrine zu stellen.“
Emotionen wären hier verschwendet
„Wen Spaniens Sportpresse erregt, ist selbst schul“, schreibt Paul Ingendaay (FAZ 10.3.): „Die spanische Sportpresse schrieb darüber einige dumme, häßliche Sätze, von denen der dümmste und häßlichste umgehend in mehreren deutschen Tageszeitungen kommentiert wurde. Der Satz lautete: So ein Glück, Roberto, daß sie dich nicht in die Gaskammer gesteckt haben. Es gibt an diesem Satz nichts zu entschuldigen, denn er bleibt bei näherer Betrachtung so dumm und nichtswürdig wie im ersten Augenblick. Aus ebendiesem Grund gibt es aber auch nichts daran zu deuten. Woraus er entspringt, erklärt sich selbst. Die deutschen Zeitungen, die den Satz zum Ausdruck spanischer Antipathie, gar zum Symptom neuer Deutschenfeindlichkeit in Spanien hochrechneten, pflegen nicht nur ein ziemlich naives Verständnis von kollektiver Psychologie, als würde die Völkerverständigung auf dem Bolzplatz entschieden. Sie täuschen ihre Leser auch über das Medium, in welchem der Satz veröffentlicht wurde. Denn das Sportblatt Marca, das sich seit je die schärfsten Töne leistet, ist mit einer halben Million täglicher Exemplare nicht nur Spaniens auflagenstärkste Zeitung (also selbst vor dem einflußreichen Blatt El País), es ist auch das einzige, das auf täglicher Basis reinen Boulevardjournalismus betreibt. (…) Die Spielberichte, Graphiken und Tabellen bei Marca sind übrigens vernünftig recherchiert, und die Texte erreichen nicht die stilistische Schwundstufe wie bei unserem Boulevard. Bei den Kommentaren sieht es anders aus, dort toben sich Launen, Ressentiments und der Ärger über ein schlechtes Fußballspiel ungehemmt aus. Die Frage dürfte also nicht sein, was aus solchen Kommentaren zu folgern ist, sondern was es uns bringt, sie überhaupt ernst zu nehmen. Mit demselben Gewinn könnten wir die britische Sun analysieren und uns darüber ärgern, daß dort vor großen Fußballspielen immer noch virtueller Fliegeralarm ertönt und im Zusammenhang mit deutschen Spielern von Hunnen und deutschen Panzern die Rede ist. Und was sollten wir den Spaniern empfehlen? Daß sie sich unsere Boulevardblätter zu Herzen nehmen, um zu erfahren, was wir Deutschen über sie denken? Lieber nicht. Jedes Land hat die Marktschreier, die es braucht, was nur bedeutet: die der Markt verträgt. Emotionen wären hier verschwendet. Wenn man angesichts der täglichen Grobheiten, Entstellungen und Lügen, die die Boulevardpresse auf jeweils landestypische Art verbreitet, schon keine Erregungsabstinenz empfehlen kann, dann zumindest etwas anderes: Deutungsabstinenz.“
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