Dienstag, 6. April 2004
Ballschrank
Bundesliga
„Meister-Flatter bei Werder?“ (FR); „es ist uns egal, was die Bayern sagen und machen“; Klaus Allofs, „Schnäppchenjäger“ (FAS) – wen verkauft Dortmund noch? – Erik Gerets, „anständiger Mensch und glänzender Kommunikator“ (NZZ), auch ein guter Trainer? –ist die Bundesliga attraktiv? Analysten sagen „nein“, Zuschauer sagen „ja“; „die neuen Stadien sind die Stars der Liga“ (SZ) u.v.m.
Werder Bremen – SC Freiburg 1:1
Es ist uns egal, was die Bayern sagen und machen
Frank Heike (FAZ 6.4.) durchschaut Bremer Sprachregeln: „Als Valérien Ismael drei Stunden nach dem Abpfiff in der sonntäglichen Sportsendung des Norddeutschen Rundfunks saß, hatte er die richtigen Antworten schon parat. Der tadellose Elsässer ist vor neun Monaten ohne ein Wort Deutsch im Gepäck nach Bremen gekommen; inzwischen führt er seine Interviews dank einiger Überstunden bei der Privatlehrerin längst in der Sprache der neuen Heimat. Natürlich kennt er auch das Wort „Krise“. Ob Werder denn nun eine Krise drohe und Bayern München womöglich doch noch herankommen lasse, fragte der Moderator. Ismael antwortete: „Vielleicht kriegt Bayern ja noch die Krise. In Bremen gibt es keine.“ Niemand hatte den Bremer Verteidiger vergattert, so etwas zu sagen. Niemand hatte seinem stillen Kollegen Frank Baumann Stunden vorher eingeflüstert, selbstbewußt von einem Sieg in der nächsten Partie in Frankfurt zu sprechen. Gespannt hatte man in der Pressekonferenz auf die Worte von Thomas Schaaf und Klaus Allofs gewartet, um vielleicht doch ein paar Worte des Zweifels am Gewinn der Meisterschaft herauszuhören. Man lauschte vergebens. „Es war nicht zu erwarten, daß wir mit zwanzig Punkten Vorsprung Meister werden“, sagte Trainer Schaaf, noch bevor es eine Reaktion aus München auf den unerwarteten Bremer Punktverlust gegeben hatte. Was die Bayern später am Abend sagten, war dies: „Jetzt schlagen wir Bremen in München und verlieren kein Spiel mehr.“ So sprach Oliver Kahn. Mußte das den Bremern nicht doch angst machen? „Es ist uns egal, was die Bayern sagen und machen. Wenn wir unsere Hausaufgaben machen, haben sie keine Chance, den Rückstand aufzuholen“, sagte Sportdirektor Allofs. Die beiden und die Profis genauso mußten sich nicht einmal verstellen, schauspielern oder sich besonders bemühen, trotz dieses kleinen Rückschlags alle Anzeichen von meisterlicher Souveränität zu wahren: In Bremen ist man auch bei nur noch sieben Punkten Vorsprung vor den Bayern vom Titelgewinn überzeugt.“
Ralf Wiegand (SZ 6.4.) empfiehlt den Bremern Gelassenheit: „Tatsächlich verhält es sich mit dem großen Vorsprung von Tabellenführer Werder Bremen auf den FC Bayern München wie mit den Eisbergen an den Erdpolen. Schmelzen die kalten Giganten auch nur um 0,1 Prozent, malen Klimaforscher sofort den Untergang der Welt an die Wand. Analog muss die Verringerung des Abstands zwischen Werder und Bayern von elf über neun auf nunmehr sieben Punkte in der Fußball-Meteorologie einen Klimawandel an der Weser bedeuten. Aus den selbstbewussten, ballverliebten Paradiesvögeln werden unter der Last der drohenden Meisterschaft überforderte Überflieger, die hypernervös zum unkontrollierten Sturzflug ansetzen. Nur noch sieben Punkte liegen sie vor den Bayern, also eigentlich vier, denn die Münchner werden das Heimspiel am drittletzten Spieltag selbstverständlich gewinnen, was auch das um sechs Tore bessere Torverhältnis nicht überleben wird. Und nun muss Werder zu Eintracht Frankfurt – nur gut, dass der Klassenerhalt gesichert ist. Gäbe es solche Krisen, wie das nach Spannung lechzende Expertenvolk den Bremern nun eine einsingen möchte, allerdings irgendwo zu kaufen, würde mancher Klubvorstand einen Kredit dafür aufnehmen. Keines der schlechten Spiele, ob gegen den 1. FC Kaiserslautern (1:0, Nachspielzeit), gegen den 1. FC Köln (3:2 nach 3:0) oder eben nun gegen den SC Freiburg, dem nach 19 Sekunden das schnellste Tor der bisher aufgearbeiteten Vereinsgeschichte gelungen war, hat Werder verloren. Dementsprechend bleiben die Verantwortungsträger in Bremen gelassen. „In der Winterpause hatten wir vier Punkte Vorsprung und waren überglücklich“, sagte Sportdirektor Klaus Allofs, „jetzt haben wir sieben – unser Gemütszustand ist also die Steigerung von überglücklich.“ Zu größerer Sorge besteht auch kein Anlass. Das Spiel gegen Freiburg bewies trotz minderwertiger spielerischer Qualität einmal mehr die Entschlossenheit, mit der Werder Bremen nach der vierten Meisterschaft strebt.“
Schaafismus
Markus Jox (taz 6.4.) notiert Gelassenheit: „Unter einem Schaafismus versteht man in Bremen eine dürre, vorderhand grantig-krude, bei genauerem Betrachten aber bestechend witzige Antwort des Fußball-Lehrers Thomas Schaaf auf eine saublöde Journalistenfrage. Diesmal lautete die Frage wie folgt: „Werder hat nun an zwei Spieltagen hintereinander jeweils zwei Punkte auf Bayern München verloren. Wie schätzen Sie die Situation ein, Herr Schaaf?“ Der darauf folgende Schaafismus: „So, wie sie ist.“ Schaaf, der es mithin begnadet versteht, mit bierernster Miene die sinnentleerten Phrasen des Fußballgeschäfts ad absurdum zu führen, gab dem Fragesteller noch einen hinterher: „Was haben Sie denn erwartet? Dass wir mit zwanzig Punkten Vorsprung deutscher Meister werden?“ Gewiss würden jetzt „wieder ein paar Rufe laut“, prophezeite der Werder-Trainer eine mediale Spekulationswelle über einen Einbruch seiner Mannschaft, „aber darauf sind wir eingestellt – wir jedenfalls können mit der Situation umgehen“. Den 45.000 Zuschauern im ausverkauften Weserstadion fiel dies weniger leicht. Die meisten hatten es sich noch gar nicht so recht gemütlich gemacht, da lag das Bremer Team bereits 0:1 zurück. Das schnellste Tor in der laufenden Bundesligasaison sei das gewesen, wurde von den Gralshütern der Statistik hernach aufgeregt kundgetan, und obendrein auch noch das schnellste Tor in der Vereinsgeschichte des SC Freiburg – „soweit diese bekannt ist“, ergänzte Coach Volker Finke, der sich einen knallroten Münte-Schaal um den Hals gelegt hatte und der auch ähnlich verkniffen strahlte wie der Sozen-Grande.“
Frank Hellmann (FR 6.4.) mahnt zur Ernsthaftigkeit: „Meister-Flatter bei Werder? Manager Klaus Allofs strahlt Gelassenheit aus. „Wenn wir spielen, was wir können, haben die Bayern keine Chance.“ Und sogleich verweist der Rheinländer auf die Tatsache, dass „wir noch drei Punkte mehr Vorsprung als vor der Winterpause haben.“ Allofs Schlussfolgerung: „Unsere Situation ist immer noch sensationell. Unser Zustand ist immer noch die Steigerung von überglücklich.“ Aber genau das ist auch das Problem der Bremer. Zuletzt hatten die prominentesten Angestellten der Werder Bremen GmbH & Co KGaA nicht mehr trainiert als nötig, manche Einheit vor kreischenden Kids erinnerte eher an ein fröhliches Schaulaufen denn an ernsthaften Übungsbetrieb. Gestern gab Trainer Thomas Schaaf nicht mehr (wie noch nach dem Stuttgart-Spiel) zwei Tage frei, sondern versammelte die Seinen bei norddeutschem Schmuddelwetter im Halbkreis um sich zur Klarstellung: Bis zur Meisterschaft sei es noch ein weiter Weg. Doch irgendwie will das in Bremen niemand hören.“
Frank Heike (FAS 4.4.) staunt über Klaus Allofs’ Geschick als „Schäppchenjäger“: „Ein verletzter Türke, ein maulfauler Mecklenburger, ein schwieriger Franzose. Und das sollten die Verstärkungen für die neue Saison sein? Ümit Davala war frisch an der Leiste operiert, als er nach Bremen kam, und der Stolz des in Mannheim geborenen Türken war auch verletzt – Inter Mailand hatte keinen Wert mehr auf die Dienste des Nationalverteidigers gelegt und ihn an Galatasaray Istanbul ausgeliehen. Andreas Reinke hatte der Bundesliga als verspotteter Tolpatsch entnervt den Rücken gekehrt und sein Glück im griechischen und spanischen Ausland versucht; die Bundesliga schien ihm so weit entfernt wie der Mars. Valerien Ismael hatte ein ernüchterndes Zwischenspiel in der englischen Premier League bei Crystal Palace abgebrochen; bei seinem Stammverein Racing Straßburg gab es Ärger mit dem Trainer. Ismael saß auf der Tribüne. Diese drei also landeten im Sommer 2003 in Bremen, und wohl selten sind Einkäufe eines Bundesligaklubs argwöhnischer beäugt worden als die des Klaus Allofs. Heute grinst der Bremer Sportdirektor längst nur noch verschmitzt, wenn man ihn nach Davala, Reinke und Ismael fragt: Nicht nur, daß sie wichtige Teile im sportlichen Erfolgspuzzle des souveränen Bundesliga-Tabellenführers geworden sind, sie haben sich auch neben dem Rasen zu Führungsspielern entwickelt. Das gilt vor allem für den 35 Jahre alten Reinke und für Ismael, 28 Jahre alt. Bremen also als Auffangstation für Schwierige und Aussortierte, für Routiniers im Spätherbst der Laufbahn? „Uns fehlte vor der Saison die Erfahrung im Kader“, sagt Allofs, „nur mit jungen Leuten geht es ja auch nicht. Diese drei Erfahrenen haben uns weitergebracht.“ Es spricht zudem für Allofs, daß er die drei Neuen ohne Ausleihgebühr holte und ihnen etatschonende, erfolgsabhängige Verträge gab. Es spricht auch für Allofs, wie sehr er sein Licht unter den Scheffel stellt: Reinke habe ohnehin zurück in die Heimat gewollt, Davala sei eben gerade auf dem Markt gewesen: Gut, bei Ismael hätten wohl seine guten Beziehungen nach Frankreich geholfen. Die Profis sehen das etwas anders.“
Borussia Dortmund – VfL Bochum 4:1
Vielleicht ist Sammer seiner Zeit gedanklich voraus
Um Matthias Sammer auszulegen, findet Freddie Röckenhaus (SZ 6.4.) einige Analogien: „Sonst erinnert Matthias Sammer bekanntermaßen ein wenig an „Bernd, das Brot“, den notorisch querschädligen Nein-Sager aus dem Kinderkanal. So richtig wusste man deshalb nicht, ob Matthias Sammer in eigener Sache sprach, als er um besondere Aufmerksamkeit für einen seiner eigenen Sätze bat: „Unter den gegebenen Umständen steht meine Mannschaft sensationell, ich betone: sensationell da“, fand Borussia Dortmunds Cheftrainer. Vielleicht ist Sammer seiner Zeit auch gedanklich bereits voraus – denn nach und nach, scheibchenweise, wie es in Dortmund üblich ist, gibt der Verein zu, dass der BVB im kommenden Jahr personell weniger exklusiv besetzt sein muss. Kein Wunder, dass Sammers Pendant Peter Neururer seine Mannschaft ebenfalls sensationell fand. „Ich habe keine Vorwürfe zu machen. Wir werden in der Endabrechnung den Platz belegen, der uns zusteht“, befand der Trainer der zuletzt leicht abgerutschten Emporkömmlinge. Das launige, offensive Spiel hatte den 81 000 Zuschauern im nicht ganz ausverkauften Westfalenstadion Spaß gemacht. Aber so richtig kamen beide nicht gegen die Zweifel an, mit denen man bisweilen auch die Worte des berühmten Kastenbrots aus dem KiKa bedenkt. (…) Gegen den drohenden Ausverkauf wichtiger Leistungsträger will sich in Dortmund Matthias Sammer deshalb stemmen. „Wir können die Älteren verkaufen oder die ganz Jungen. Aber nicht die im besten Mittelalter“, sprach Sammer in Klauseln, die man irgendwie von der Rürup-Kommission zu kennen glaubt. Gemeint waren damit vor allem die BVB-Säulen Torsten Frings und Leonardo Dede.“
Allgemein
Anständiger Mensch und glänzender Kommunikator
Martin Hägele (NZZ 6.4.) warnt die Wolfsburger vor Erik Gerets: „Ähnlich konträr wie die wichtigsten Angestellten erledigten auch die zwei Chefs ihre Jobs. Der Manager Pander hat nie ein Hehl daraus gemacht, dass der aus Berlin verpflichtete Röber, der in Wolfsburg wie bei Real Madrid spielen lassen wollte mit seinen argentinischen Artisten, nicht zu seinem Konzept passte. Denn Pander ist ein bodenständiger Funktionär, der als Liga-Obmann aus der Oberliga bald 20 Jahre lang gewachsen ist, mit der Entwicklung, welche der allmächtige Sponsor und dessen sportliches Aushängeschild in der Bundesliga genommen haben. Mit dem Hobby-Landwirt und ehemaligen Weltklasseverteidiger Gerets könnte Pander eher auf einer Welle liegen als mit dem im Laufe der Zeit für Beratungen immer resistenteren Röber. Allzu grosse Hoffnungen aber sollten in Niedersachsen dennoch nicht gehegt werden. Und man sollte sich auch von der positiven Atmosphäre, die der anständige Mensch und glänzende Kommunikator Gerets garantiert schaffen wird, nicht blenden lassen. Problematisch wird die Neuordnung des VfL-Teams nämlich schon, wenn Gerets nicht auf Anhieb die richtigen Spieler für sein 4:4:2-System findet. Auf diese taktische Grundausrichtung alter Benelux-Schule schwört der Fussball-Lehrer. Es kann sogar richtig schlimm werden, sobald das Management dem neuen Trainer erlaubt, dessen Wunschspieler zu kaufen. Die Folgen solcher katastrophalen Verpflichtungen sind derzeit in Kaiserslautern zu besichtigen. Genauer formuliert handelt es sich um den spielerischen Zerfall eines halbwegs ordentlichen Teams. Von einem taktischen Konzept ist auch nach siebzehn Monaten unter dem belgischen Übungsleiter und seinem Assistenten Stumpf nichts übrig geblieben. Die Personalpolitik aus dieser Ära gilt als Beleg dafür, wie man mit der Legionärs-Mentalität seiner Spieler an den Bedürfnissen einer ganzen Region vorbei wirtschaftet und die Basis vom Fritz-Walter-Klub entfremdet. Am 8. Mai, am drittletzten Spieltag, gibt Gerets dort mit dem VfL Wolfsburg sein Comeback. Es gibt viele, die werden sich auf das Wiedersehen mit dem sympathischen Belgier freuen. Der gehört nämlich zu jener seltenen Sorte Menschen, die in dieser Branche mehr nach ihrem Auftreten und weniger nach ihrer Arbeit gemessen werden.“
Die neuen Stadien sind die Stars der Liga
So viele Zuschauer kamen noch nie – Christoph Biermann (SZ 6.4.) reibt sich die Augen: „Allmählich muss man sich fragen, was die Zuschauer eigentlich noch vom Besuch in Bundesligastadien abhalten könnte. Offensichtlich bremst nichts mehr den Drang, auf den Tribünen live dabei zu sein. Dass in der Bundesliga kaum Weltstars zu sehen sind, egal! Dass die deutschen Klubs international nicht mithalten, auch egal! Selbst auf Einzelschicksale wird keine Rücksicht mehr genommen. Oder bremst es den Elan der Fans, wenn ihr Klub rettungslos abgeschlagen am Tabellenende steht? Auf keinen Fall, der 1.FC Köln hatte noch nie so viele Zuschauer. Stören atemberaubende Geschäfte und Millionenschulden? Nö, Borussia Dortmund ist auf dem Weg zum besten Zuschauerschnitt der Bundesligageschichte. Lähmt Herumgurken im Niemandsland der Tabelle das Interesse? Ach was, nie sahen so viele Fans die Spiele des Hamburger SV. So könnte man problemlos weitermachen, denn bis auf zwei Klubs haben alle Bundesligisten ihre Zuschauerzahlen im Vergleich zum Vorjahr gesteigert. Hertha BSC hat sich mit einer schaurigen Heimbilanz alle Mühe gegeben, die Zuschauer aus dem Olympiastadion zu vergraulen. Trotzdem sind im Schnitt nur ein paar Hundert Fans weniger gekommen. Und in Hannover erklärt sich der Rückgang der Zuschauerzahlen schlicht dadurch, dass durch den Umbau nicht mehr Platz ist. Womit wir auch schon bei der Erklärung für den rätselhaften Boom wären. Die neuen Stadien sind die Stars der Liga. Am deutlichsten ist das in Köln zu sehen. War das alte Müngersdorfer Stadion so wenig komfortabel, dass man nicht einmal das Spiel richtig sehen konnte, ist die neue Arena eine aufregende Schlucht. Da ist was los.“
Esprit und echte Typen fehlen der Bundesliga
Michael Ashelm (FAS 4.4.): „Während Klubs aus England, Spanien, Italien oder auch Frankreich die europäischen Wettbewerbe unter sich ausmachen, müssen deutsche Vereine ausnahmslos mit ihrem kleinen, provinziellen Beritt vorliebnehmen. So steht diese Fußballsaison nicht nur für den spektakulären Alleingang von Werder Bremen, sondern auch für etwas anderes: das klägliche Scheitern des großen Kapitals mit seinen hochtrabenden Plänen. „Sicher können wir in dieser Saison mit dem Abschneiden der deutschen Mannschaften auf europäischem Parkett nicht zufrieden sein“, sagt Franz Beckenbauer. Aber einen langfristigen Schaden der Bundesliga sehe er deshalb nicht. Anders beurteilt es der Präsident des Deutschen Fußball-Bundes, Gerhard Mayer-Vorfelder, der für die Situation eher Spott übrig hat. „Es ist gut, wenn man mit dem Stadion wieder anfängt. Das andere kommt vielleicht bald wieder“, meinte er zuletzt zur Situation der Bundesligaklubs in der Champions League, deren diesjähriges Finale in Gelsenkirchen stattfindet – also wenigstens ein kleiner Trost. Währenddessen ist das Trauerspiel überall zu besichtigen: Der deutsche Branchenprimus FC Bayern hat es trotz großspuriger Ansage nach seinem Champions-League-Gewinn 2001 nicht in den erlesenen Fußball-Zirkel mit Real Madrid, Arsenal London oder dem AC Mailand geschafft. Borussia Dortmund hat sich maßlos verkalkuliert und steht vor der Grundsanierung. Der großzügig mit Sponsorengeldern bedachte Hauptstadtklub Hertha BSC Berlin bangt nach verfehlten Personalentscheidungen derzeit um den Klassenverbleib, und Schalke 04 muß sich inzwischen mit dem kleinen Ruhrrivalen VfL Bochum auf eine Stufe stellen lassen. Kurzum: Managementfehler haben ihre Spuren hinterlassen. Da kommt auch Straub nicht umhin, Defizite einzuräumen: „Wir müssen sicher beklagen, daß unsere Edelmarken international zurückgefallen sind. Zur Propagierung und für das Ansehen der Bundesliga ist das nicht wünschenswert.“ In Zeiten, in denen jeder Euro mehr in der Tasche zählt und der geschäftliche Blick der europäischen Ligen neuerdings auf den großen asiatischen Fußballmarkt gerichtet ist, bedeutet das im Gerangel mit der Konkurrenz einfach nur – Rückschritt. (…) Schon in der Vergangenheit hatten Werbefachleute immer wieder festgestellt, daß den besten deutschen Klubs etwas Wichtiges fehlt: Esprit und echte Typen. So sagt zum Beispiel Stephan Schröder vom Kölner Institut Sport und Markt: „Auch die Bayern müssen schauen, daß sie nicht nur Kahn und Ballack als deutsche Aushängeschilder haben, sondern auch andere Spieler populärer machen. Da müssen die Bayern noch stärker dran arbeiten.“ Aber wie in München kann auch in Dortmund, Berlin oder Schalke nur der sportliche Erfolg etwas am drögen Erscheinungsbild ändern – das ist das eine. Auf der anderen Seite zeigen die deutschen Großklubs gefährliche Instabilitäten, wie man jetzt gerade an Hertha sieht. Aber auch Bayer Leverkusen mußte in der vergangenen Saison fast in die Zweitklassigkeit.“
Als Popstar ist Kahn, der Titan, nun allein im Bundesligahaus
Richard Leipold (FAS 4.4.) fürchtet, dass er Amoroso vermissen wird: “Gibt es wirklich nur Gewinner bei dieser Scheidung? Ist Fußball nicht längst Teil der Unterhaltungsindustrie, die nach Darstellern verlangt, die mehr zum Gelingen der Show beitragen als den gepflegten Spannstoß? Die Bundesliga ist ein Amüsierbetrieb, dessen Handlungsstränge längst nicht mehr allein auf dem Rasen zusammenlaufen. Und Amoroso war eine der letzten Fußballfiguren, die eine Aura umgibt; die sich mit tauglichen wie untauglichen Mitteln unterscheiden vom Einheitsprofi der Ligakollektive. Solche Spieler mögen keine guten Vorbilder sein, aber sie verkörpern das Unberechenbare, Unnachahmliche, das zum Leben wie zum Sport dazugehört, ob man will oder nicht. Mit Amoroso verläßt wieder ein kickender Querkopf die deutsche Durchschnittsliga. Matthäus, Effenberg, Basler, Möller – alle weg. Auch wenn wir es nicht gerne zugeben: Manchmal fehlen sie uns mit ihren Extravaganzen und mitsamt ihrem Gefolge aus schönen Frauen, falschen Freunden und raffgierigen Beratern. Amoroso etwa wirkte wie ferngesteuert von einem Literaturwissenschaftler namens Nivaldo Baldo, der sich als Leibarzt, als Guru des Torjägers gerierte. Ob Geschäftsführer, Mediziner oder Trainer: Baldo versuchte sie alle derart dreist und lächerlich in Mißkredit zu bringen, daß er auf fast komische Art den Blick für die absurden Seiten des Geschäfts geschärft hat. Die aktuellen Stars sind kalte Vollstrecker wie Makaay, schweigende Künstler wie Micoud oder einfach nur nette Jungen wie der ständig nach seinem sportlichen Ich suchende Ballack. Sie konzentrieren sich so stark auf das Wesentliche, daß sie überfordert sind, wenn das Publikum sich nach Menschen mit Fehl und Tadel sehnt, die andere mitreißen. Als Popstar ist Kahn, der Titan, nun allein im Bundesligahaus.“
Ballschrank
Sonstiges
in seiner Autobiografie entsorgt Marcel Reif, der „sportfanatische Germanist“ (taz), Sprachmüll der Fußball-Berichterstattung – Jahn Regensburg schlägt den 1. FC Nürnberg und erfüllt sich einen Traum u.v.m.
Der sportfanatische Germanist
Jan Freitag (taz 6.4.) liest mit Begeisterung die Autobiografie Marcel Reifs: „Ein Sportreporter ist ein Sportreporter. Er moderiert, redet viel, kritisiert gern, manchmal lobt er, ganz selten kriegt er Fernsehpreise, fast nie Aufmerksamkeit über sein Metier hinaus. Nur der Boulevard bläst ab und an Privates über die Menschen hinterm Mikro in die Hirne. Dann ist der Sportreporter immerhin Promi. Aber sonst? Sportreporter gelten als Fachidioten, häufig auf ein Spiel spezialisiert, und wenn sie wie JBK oder Beckmann die Seite wechseln, wird es entsprechend seicht im Studio. Single-Issue-Experten hieße das freundlicher im Neusprech – dem Genre verhaftet, unflexibel, freizeitfixiert, nicht ernsthaft journalistisch. So weit die Regel. Plötzlich aber kommt jemand, schreibt über sein Werden, Wirken, Sein, und es wird weltmännisch. Marcel Reif heißt dieser jemand und gibt in seiner Biografie „Aus spitzem Winkel. Fußballreporter aus Leidenschaft“ Einblicke in ein Leben rund ums Leder, das längst aus Plaste ist. Doch wenn es das allein wäre: eine Biografie mehr, ein Bohlen auf dem Rasen, ein Effenberg an dessen Rand, eine sexfreie Naddel. Nein, wenn Marcel Reif schreibt, erlebt man Fußball wie eine Art Lebensbeichte ohne Schlüpfrigkeiten, eine Zeitreise ohne Ziel, als unpathetische Liebeserklärung. Wenn nämlich der schlagfertigste deutsche Kommentator („die Spieler von Ghana erkennen Sie an den gelben Stutzen“) befindet, „Niederlagen, die einen kalt lassen, sind schlimm. Siege die einen kalt lassen, sind noch schlimmer“, spricht er allen Fans mit Worten aus dem Herzen, die einem nur nie einfallen. Wenn er „ergebnisorientierten Fußball“ zynisch nennt und Reporterphrasen à la „Mittelfeld überbrücken“ oder „Direktabnahme“ als Sprachmüll entlarvt, spricht daraus der liebende Kenner, der sportfanatische Germanist.“
Besprochenes Buch:
Marcel Reif, mit Christoph Biermann: „Aus spitzem Winkel. Fußballreporter aus Leidenschaft“. Kiepenheuer & Witsch, 256 Seiten, 18,90 Euro.
Rudolf Neumaier (SZ 5.4.) gratuliert Jahn Regensburg zum Sieg über den 1. FC Nürnberg: „Eine originelle Gefühlswallung hat den ehrenamtlichen Schatzmeister des SSV Jahn Regensburg in der Nachspielzeit erfasst. Sein Überschwang paarte sich mit Kampfeswut, als auf dem Platz ein Scharmützel zwischen Spielern entbrannte: Der korpulente Pralinenfabrikant, klein von Wuchs, doch wild entschlossen, steuerte auf den Ort des Geschehens zu, als wolle er den Nürnberger Fußballern mit Gewalt beibringen, dass sie sich gefälligst zu beugen hätten – und hätten ihn nicht Kollegen aus dem Präsidium aufgehalten, wer weiß, was passiert wäre. Die Szene spielte sich am Rande ab, doch sie ist Sinnbild des unbändigen Eifers, mit dem der Sport- und Schwimmverein Jahn Regensburg seinen Minderwertigkeitskomplex als Emporkömmling aus der Provinz zu überwinden trachtet. Mit nämlichem Eifer bezwang er den 1. FC Nürnberg 2:1. Zwischen Nürnberger und Regensburger Fußballanhängern herrscht also eine gewisse Rivalität, die Eingriffsversuche des Schatzmeisters waren nur der Anfang, nach dem Spiel gab es dann tatsächlich Gewalttätigkeiten. FCN-Fans, vermutlich von der Niederlage gereizt, griffen Polizeieinheiten an, und attackierten später sogar noch Autofahrer auf Autobahnraststätten. Die Bilanz: Vier verletzte Polizisten und 21 Festnahmen. Der 1. FC Nürnberg, dessen Fans sonst nicht für harte Randale bekannt sind, wirkte irritiert und suchte nach Erklärungen. Man distanzierte sich, fand aber irgendwie doch einen Grund, das eigene Lager in Schutz zu nehmen. „Es scheint auch, dass die Ordnungskräfte überfordert waren. Einige Stehplatzblöcke waren sehr voll, einige Zugänge absolut verstopft“, erklärte Pressesprecher Martin Haltermann. Die Regensburger sprachen trotz allem von einem historischen Abend – aus rein sportlicher Sicht.“
Eine Welt des Fußballs mit lauter geläuteten Gutmenschen würde furchtbar langweilig sein
Katrin Weber-Klüver (FTD 5.4.) erweitert die Rubrik „der Schiedsrichter und ich“: „Fans des spanischen Erstligisten FC Valencia haben sich zur Erziehung eines Schiedsrichters etwas ausgedacht: Sie bringen ihn vor Gericht. Der Referee hatte bei einem Spiel Valencias in Madrid den Gastgebern in der Nachspielzeit einen umstrittenen Foulelfmeter zugestanden, durch den Real noch zum Ausgleich kam. 120 Valencianer machen deshalb nun seelischen Schaden geltend und fordern, der Mann mit der Pfeife solle eine symbolische Spende von einem Euro leisten sowie öffentlich seinen Irrtum eingestehen. Das ist doch mal ein wegweisender Vorschlag. Künftig sollten sich alle am Fußball Beteiligten selbst zu besseren Menschen erziehen, indem sie wöchentlich öffentlich um Entschuldigung für ihre Verfehlungen bitten: Spieler, die schlecht spielten, Schiedsrichter, die sich verguckten, Trainer, die falsch einwechselten, Kommentatoren, die die Aufstellung falsch verstanden, Fans, die vorschnell Spieler entlassen wollten. Einziger Nachteil: Eine Welt des Fußballs mit lauter geläuteten Gutmenschen würde furchtbar langweilig sein.“
Montag, 5. April 2004
Ballschrank
Wolfsburg, Verein ohne Gesicht und Kontur
die Entlassung Jürgen Röbers in Wolfsburg trifft auf Verständnis der Journalisten, „er wollte wie Real Madrid spielen lassen“ (SZ); VfL Wolfsburg, Verein „ohne Kontur und Gesicht“ (FR) – Bayern Münchens „monotone Überlegenheit“ (SZ) wird auf dem Betzenberg zur Gewohnheit – „ungewohntes auf Schalke“ (FAS): ein torreicher Heimsieg – „Hans Meyer zweifelt an seiner Hertha“ (FAS); „Wiederkehr der immer gleichen Sprüche“ (FAZ) in Berlin – Mönchengladbach hat kein Glück im Volleyball – „sind die Kölner wirklich nicht mehr zu retten?“ (FAZ) – Ernst Happel lebt in Felix Magath fort (SZ) u.v.m.
VfL Wolfsburg – VfB Stuttgart 1:5, Jürgen Röber entlassen
Keine Kontur, kein Gesicht
Frank Hellmann (FR 5.4.) kann mit dem VfL Wolfsburg nicht viel anfangen: „Noch immer ist es dem Fußball-Unternehmen nicht gelungen, sich als Eigenmarke in der Liga zu positionieren. Der Club hat zwar ein schmuckes Stadion vom Konzern hingestellt bekommen, aber immer noch keine Kontur, kein Gesicht, ja für viele nicht einmal eine richtige Daseinsberechtigung im Oberhaus. Würde Wolfsburg statt Köln, Frankfurt oder Berlin in die zweite Liga absteigen, das Bedauern wäre begrenzt. Wohl sogar in der Autostadt selbst. An keinem anderen Standort würde ein 1:5 im eigenen Stadion und die Entlassung des Trainers so wenig Emotionen produzieren. Noch immer ist der VfL Wolfsburg in der Region irgendwie Randnotiz. Die Schlagzeilen gehören Hannover 96, Ereignisse beim Regionalligisten Eintracht Braunschweig erregen und polarisieren im östlichen Niedersachsen viel eher. Gewiss, der Zuschauerschnitt in Wolfsburg ist auf über 20 000 angestiegen, doch noch immer kommt der Club irgendwie als Kunstprodukt daher. Der klare Kurs fehlt. Mal wird von der Champions League geträumt, dann Stefan Effenberg geholt, schließlich in Südamerika groß eingekauft.“
Er wollte wie Real Madrid spielen lassen
Jörg Marwedel (SZ 5.4.) vermerkt die Fehler Jürgen Röbers: „Wahrscheinlich träumte Jürgen Röber davon, der berühmteste Wolfsburger nach August Heinrich Hoffmann von Fallersleben zu werden. Der Lyriker dichtete einst das Lied der Deutschen (Und: „Alle Vögel sind schon da!“), was ihn quasi unsterblich machte. Röber wollte der Erste sein, der die Fußballer des VfL Wolfsburg in die Champions League führt. Das wäre als epochale Leistung gewertet worden und hätte ihn beim Volk auf eine Stufe mit den angesehensten Lenkern des Volkswagenwerkes gestellt. Dass es anders kam und er nun als achter Trainer dieser Saison den Arbeitsplatz vorzeitig räumen musste, ist freilich nicht den unerklärlichen Mächten des Fußballs zuzuschreiben, wie Röber gern Glauben macht. Man könnte es so formulieren: Er wollte wie Real Madrid spielen lassen mit seinen südamerikanischen Künstlern, hat aber vergessen, dass zum erfolgreichen Spiel auch eine solide Defensivarbeit benötigt wird. In 13 Monaten ist es ihm nicht gelungen, dem Team eine Ordnung zu vermitteln, die einen Teil der 56 Gegentore verhindert hätte, die negativer Spitzenwert der Liga sind. Am Schluss haben ihm die erfahreneren Wolfsburger Profis kaum noch zugehört, weil er keine Orientierung bieten konnte. Schon vor dem 1:5-Desaster gegen Stuttgart hatte Röber zudem die letzten Fürsprecher im Klub gegen sich aufgebracht, als er in einem Interview erklärte, er sei „mehr Profi als alle anderen im Verein“.“
Frank Hellmann (FR 5.4.) ergänzt: „Was Röber vorzuwerfen ist: Die acht Niederlagen in den jüngsten zehn Spielen sind nicht nur in der Summe Besorgnis erregend. In der derzeitigen Verfassung ist das Team nicht erstligatauglich. In der taktischen Ausrichtung erwecken die Wolfsburger den Eindruck einer Betriebsmannschaft, die sich abendlich zum sinnfreien Bolzen trifft. Das mag beim Feierabendkick auf dem VW-Gelände nicht weiter stören, in der Volkswagenarena im Bundesliga-Überlebenskampf ist derlei Verhalten verheerend. Dort traten die Angestellten der VfL Wolfsburg Fußball GmbH in einem merkwürdigen 5-0-5-System auf – in der Abwehr standen Stefan Schnoor und Co. zu tief, im Angriff mühte sich die südamerikanische Fraktion mit Ballkünstler wie Andres D‘Alessandro um innovatives Vorwärtsspiel. Das war bisweilen hübsch anzusehen, doch bei jedem Ballverlust verfällt die Offensivabteilung in Teilnahmslosigkeit. Bisweilen klafft zwischen Defensive und Offensive ein weites Feld von 20, 30 Metern, Freiraum, den konterstarke Gegner vom Kaliber VfB Stuttgart dankbar annehmen.“
Frank Heike (FAZ 5.4.) hat „ein Spiegelbild der Rückrunde (gesehen): Fünf Akteure sorgten für ansprechenden Offensivfußball, aber sie spielten nur für sich und nie mit den alleingelassenen anderen fünf Feldspielern zusammen, die die Defensive bilden. Dem VfL fehlt das Scharnier zwischen den Mannschaftsteilen: die im modernen Fußball so wichtig gewordene „Nummer sechs“. Pablo Thiam ist für diese Rolle zu phlegmatisch, Andrés D‘Alessandro zu offensiv ausgerichtet. Bei allen Fehlern der Profis muß man Röber vorwerfen, dem Team im steten Niedergang kein passendes taktisches (Not-)Gerüst verpaßt zu haben.“
1. FC Kaiserslautern – Bayern München 0:2
Roland Zorn (FAZ 5.4.) berichtet Münchner Zielstrebigkeit und Kaiserslauterer Gereiztheit: „Ottmar Hitzfeld verspürte nach dem ungefährdeten Sieg auf dem Betzenberg, wo die Bayern schon seit zehn Pflichtspielen nicht mehr verloren haben, dezente Genugtuung. Einfach vertreiben nämlich läßt sich der inzwischen bei manchem Münchner Oberen umstrittene „General“ von gestern nicht aus seinem Leitstand. Der Gentleman mit den tadellosen Umgangsformen verwies dezent auf das Eigentliche seines Berufs: „Mit der Kritik muß man leben. Aber die Arbeit macht nach wie vor Spaß, weil die Mannschaft weiter mitzieht.“ Während Hitzfeld von einem, seinem Team gern redete, scheint es gleich mit zwei Mannschaften zu tun zu haben: der Koalition der Willigen, also solchen Spielern, die „sich reinhauen“, wie der Trainer sagt, und einer kleineren Gruppe der Tagträumer, die sich der schweren Situation des Tabellenfünfzehnten nicht bewußt seien. Den verletzten Brasilianer Lincoln haben sie schon nach Haus entlassen; der Portugiese Dominguez saß, obwohl seinem Können nach bundesligatauglich, wegen unzureichender Trainingsleistungen nicht einmal auf der Ersatzbank; die drückten gleich vier Spieler, die Jaras Vorgänger Erik Gerets voller Hoffnung verpflichtet hatte: die Kameruner Tchato und Mettomo, der Finne Nurmela und der Belgier Vreven. Während also fünf international herumgekommene Fußball-Gastarbeiter zuschauten, ließ Jara die vergleichsweise unbedarften Reuter und Drescher und den nicht recht vom Fleck kommenden Halil Altintop ihr Glück versuchen. Später kam auch noch der auf der Bühne Bundesliga unbekannte Debütant Boskovic hinzu, der gegenüber den Stars aus München wie ein Hobbykicker wirkte. Jara stellte sich danach schützend vor seine überforderte erste Wahl und klagte lieber die Sitzenbleiber auf Bank und Tribüne an: „Der eine oder andere Spieler hier weiß nicht, um was es geht.“ Auch der belgische Vorgänger des Österreichers – der seinerseits die Spieler Hengen, Freund und Anfang verbannt hatte – bekam sein Fett weg: „Bei den verschiedenen Verpflichtungen hat man zuviel auf das spielerische Können und zuwenig auf den Charakter geschaut.“ Er jedenfalls werde seine Linie „durchziehen, und wer nicht mitzieht, fliegt raus“. Das hörte sich markig, aber nicht restlos überzeugend an. Absteigen kann der FCK so oder so. Die Chance, in der Liga zu bleiben, wächst indes, wenn es Jara gelingt, auch jene Spieler zu mehr Hingabe zu bewegen, die nicht immer nach Wunsch mitarbeiten. Dazu gehört leise Überzeugungskraft, und die ist am Ende wichtiger als tönende Abgrenzungsrhetorik ohne erkennbaren Zugewinn.“
Monotone Überlegenheit
Philipp Selldorf (SZ 5.4.) notiert Kaiserslauterer Uneinsichtigkeit: „Tim Wiese ist als Schüler Gerald Ehrmanns ein Urenkel der berühmten Kölner Torwartakademie und damit im Geiste Toni Schumachers erzogen worden. Auch am Samstag machte Wiese, der zu ungefähr gleichen Teilen aus panzerharter Muskelmasse und aus Haargel zu bestehen scheint, den Lehren seines Ahnherren alle Ehre. Erstens hatte er sich zum wiederholten Male als bester Spieler des 1. FC Kaiserslautern bewährt und zweitens vertrat er – wie das bei Schumacher auch häufig vorkam – hinterher eine ganz eigene, unverschämt selbstbewusste Meinung zum Geschehen, die er mit niemandem teilen musste. Nach dem Sieg des FC Bayern stellte sich Wiese also ziemlich breitbeinig vor den TV-Reporter und sagte: „Wenn der Stefan Malz nicht vom Platz geflogen wäre, dann wären die zwei Tore nicht gefallen, dann wär’s überhaupt kein Problem gewesen.“ Niemand weiß, was passiert wäre, wenn Malz wegen seiner dummen Fouls nicht nach 28 Minuten vom Feld geschickt worden wäre, aber jeder außer Wiese konnte von Anfang an sehen, dass die mit einigen Amateuren besetzte Verlegenheitself des FCK gegen den FC Bayern nur eine winzige Außenseiterchance hatte – und nach dem Platzverweis nicht mal mehr die. „Da war mir klar, wir werden fast keine Chance mehr bekommen“, sagte Trainer Kurt Jara. Abgesehen vom Besuch in Freiburg (wo sie 6:0 gewannen) hatten die Bayern in dieser Saison kein leichteres Auswärtsspiel als in Kaiserslautern, nur die Nachlässigkeit der Angreifer Santa Cruz und Pizarro verhinderte ein der monotonen Überlegenheit angemessenes Ergebnis.“
Borussia Mönchengladbach – Bayer Leverkusen 0:0
Perfekte Szene aus dem Volleyball
Rainer Seele (FAZ 5.4.) beschreibt die wichtigste Szene des Spiels: „Hans-Jörg Butt hätte nur noch ein Netz benötigt, und es wäre eine perfekte Szene aus dem Volleyball gewesen. Hochspringen, Arme heben, Ball blocken: Butt machte bei dieser Vorführung eine exzellente Figur. Weil dies aber nicht in einer Halle geschah, sondern in der Fußball-Bundesliga und noch dazu außerhalb des Terrains, in dem Torhüter nach dem Ball greifen dürfen, sorgte der Leverkusener Butt mit seiner Aktion für helle Aufregung auf dem Bökelberg. Klarer Regelverstoß! Das war die einhellige Meinung bei Borussia Mönchengladbach, doch Schiedsrichter Thorsten Kinhöfer sah das anders. Man mußte ihm das auch zugestehen, da von seiner Warte aus – mitten auf dem Feld – kaum zu erkennen war, ob Butt bei seinem Abwehrversuch nach einem Heber von Arie van Lent den Strafraum verlassen hatte. Kinhöfer also, der auch von seinem Assistenten an der Seite keinen entsprechenden Hinweis erhalten hatte, zog Butt in dem heikelsten Augenblick beim 0:0 zwischen der Borussia und Bayer 04 Leverkusen nicht zur Rechenschaft, womit er sich natürlich den Zorn der Gladbacher einhandelte. Mit seinen Händen, das belegten die Fernsehaufnahmen, befand sich der Tormann Butt tatsächlich auf „verbotenem Gebiet“; er hätte deshalb des Feldes verwiesen werden müssen.“
Hand ist Hand, Stand egal, Herkunft auch. Fußball ist wie Golf
Bernd Müllender (taz 5.4.) erlebt Nachholbedarf in Regelkunde: „Geschäftsführer Wolfgang Holzhäuser musste beim Regelwerk passen: „Ich habe keine Ahnung. Wo steht, wie der Strafraum definiert ist?“ Jürgen Kohler: „Ich weiß es auch nicht, wirklich.“ Kurt Vossen sah es als „Frage der Logik“, dass „der Strafraum senkrecht hoch verläuft“. Aber wo das steht? Schulterzucken. Kühn geriet die Spekulation von Reiner Calmund. „Normalerweise ist Hand Hand“, befand der Kugelrundmanager, indes sei es „schon etwas irritierend, weil ja der Halbkreis um den Strafraum ins Spiel kommt.“ Den dürfe der Torwart „beim Abschlag ja auch betreten“. Eine verschwurbelt falsche Ansicht, aber entschuldbar, weil Calmund wegen eigener Körperformen womöglich überall irritierende Rundungen sieht. Es wurden Vergleiche mit Volleyball angestellt und auch mit Golf, wo genau festgeschrieben ist: (Aus-)Grenzen verlaufen stets senkrecht nach oben. Aber ist das beim Fußball auch so? Wäre es womöglich kein elfmeterwürdiges Handspiel, wenn ein Verteidiger von außerhalb in den 16-Meter-Raumes hineinhechtet oder wenn er hinter dem Torpfosten steht und einen Schuss auf der Linie abwehrt? Wäre der Strafraum dann virtuell geschrumpft? „Kannochnichsein“ rheinländerte Calmund. Und war er im Fall Butt schräg erweitert? Torhüter müssen beim Elfmeter zwar auf der Linie stehen, aber sie dürfen davor mit den Händen herumwedeln. Schiedsrichter Thorsten Kinhöfer brachte die Debatte auf Linie: Hand ist Hand, Stand egal, Herkunft auch. Fußball ist wie Golf. Es hätte Freistoß und Rot geben müssen. Der Fehler tat ihm Leid. So durfte sich der nach Europa zurückstrebende Ex-Finalist der Champions League über Regelnachhilfe freuen. Und über einiges Glück. Und die leidenschaftlich fightende Borussia wird das Volleyballspiel endgültig verteufeln. Denn erst missinterpretierte vor knapp drei Wochen der Schiedsrichter im Aachener Pokalhalbfinale einen Alemannia-Abwehr-Schmetterball grob falsch, jetzt folgte der ungeahndete Übergriff. Egal, sagt Holger Fach, „auch der eine Punkt kann uns noch helfen. Ich bin hundert Prozent sicher, dass wir die Klasse halten.“ Aber nur, wenn die Gegner endlich das Volleyballspiel unterlassen.“
Christoph Biermann (SZ 5.4.) protokolliert die Gladbacher Torwartfrage: „“Ein für die Zuschauer ganz lustiges Spiel“, hatte Torhüter Jörg Stiel gesehen, der aber nach seiner Rückkehr in die Mannschaft sowieso äußerst guter Dinge war. „Ich freue mich, dass ich wieder im Tor stehen darf, Hurra“, rief er. Das sollte selbstironisch klingen, war aber ein tiefer Seufzer der Erleichterung. Im Laufe der vergangenen Woche hatte Gladbachs Schweizer Torwart von seinem Nationaltrainer Köbi Kuhn derart fragwürdigen Rückenwind bekommen, dass er kaum mit einer Rückversetzung von der Bank hätte rechnen können. Kuhn hatte Gladbachs Trainer Fach in der Schweizer Boulevardzeitung Blick ein „Arschloch“ genannt und ihm Vetternwirtschaft unterstellt, weil er Claus Reitmaier für Stiel spielen ließ. Nun sah Reitmaier in den letzten Wochen wiederholt unglücklich aus, aber Kuhns Äußerungen hätten den Trotz von Fach wecken können. Doch nachdem Stiel in der vergangenen Woche beim Länderspiel in Griechenland eine gute Leistung gezeigt hatte und einen Elfmeter hielt, brach Gladbachs Trainer das fünfwöchige Experiment mit Reitmaier ab und stellte wieder die alte Nummer Eins ins Tor.“
1860 München – Hannover 96 0:2
Ein Tag, an dem die Sätze viel schöner waren als das Spiel
Sehr lesenswert! Christian Zaschke (SZ 5.4.) erfasst das Grausen: „Der Fußball vollbringt bisweilen Unglaubliches. Er versetzt vernunftbegabte Menschen in Raserei, er verwandelt Betonschüsseln in Orte eines gewaltigen Karnevals, in so genannte Hexenkessel, in welchen Zehntausende beseelt den Männern auf dem Rasen zusehen, wie sie den Ball in einer Weise passen und behandeln, dass das Spiel über sich hinauszeigt, manchmal sogar aufs Glück. Der Weg in diese Höhen ist weit, und der Preis für die schiere Existenz dieses fantastischen Fußballs ist sein Gegenteil. Denn die Summe aller Fußballspiele ergibt einen durchschnittlichen Kick, deshalb muss es für jedes Spiel von ganz oben eines von ganz unten geben. 26 700 Menschen hatten am Samstag das Pech, dabei zu sein bei einem Spiel von unten. Es stehen im Floskelreich des Fußballs viele Wendungen bereit, um ein solches Spiel zu beschreiben, gern genommen etwa der „Grottenkick“ (eng verwandt: das „unterirdische Spiel“). Der schlichte „Anti-Fußball“ steigt ab bis zum „Gurkenspiel“, von wo es nicht mehr weit ist bis zum „Altherrenfußball“. Dieser erreicht seine vollkommene Form, wenn abfällig von einem „Spiel der Uwe-Seeler-Traditionself“ die Rede ist. All dies mag Hannovers Trainer Ewald Lienen gemeint haben, als er sagte: „Das sah ja nicht sehr attraktiv aus, wie der Ball so über mich hinweg geflogen ist und die Mittelfeldspieler fast eine Halsentzündung bekommen hätten. Im britischen Fußball nennt man diese Spielweise Kick&Rush, wobei auf der Insel dem Treten des Balles (kick) normalerweise ein überaus eifriges Rennen (rush) folgt. Am Samstag beschränkten sich beide Teams in München aufs Treten des Balles, das eifrige Rennen ließen sie – vielleicht aus taktischen Gründen oder einfach so – an diesem lauen Frühlingsnachmittag weg. Nichts deutete darauf hin, dass irgendwann ein Tor fallen könnte. (…) Damit wäre die Geschichte des Spiels erzählt, wenn nicht Brdaric später noch für einen der besten Witze der Saison gesorgt hätte. Kurz vor Schluss der Begegnung hatte Rodrigo Costa den Hannoveraner am Hals berührt, es mag der Versuch absichtlichen Nachschlagens gewesen sein. Brdaric sank zu Boden, als sei er von zwei Blitzen getroffen worden, habe zudem einen Hammerschlag auf den Kopf bekommen und sei mit der Drohung konfrontiert worden, künftig täglich sein eigenes Lied („Die wilde 13″) hören zu müssen. Bei anderen Spielern hätten die Zuschauer in diesem Moment ans Schlimmste denken müssen, aber es war ja Brdaric, der wenige Sekunden später wieder topfit auf den Rasen stand, und der nach der Partie verkündete: „Ich bin kein Spieler, der sich theatralisch fallen lässt.“ Wenige Profis in der Bundesliga haben einen derart feinen Sinn fürs Groteske. Der Satz „Russland ist ein Zwergenstaat, der hervorragenden Käse produziert“ ist nur halb so absurd wie Brdaric“ Bemerkung. Er legte noch nach: „Ich gehe ja nicht einfach zu Boden, weil mich eine Fliege gestochen hat.“ An diesem Tag, an dem die Sätze so viel schöner waren als das Spiel, fügte 1860-Trainer Falko Götz noch an: „Alle haben für uns gespielt, nur wir haben nicht für uns gespielt.“ Was den Sechzigern vor allem fehlt zum Spielen ist ein Spielmacher. Niemand in der Mannschaft ist in der Lage, eine Partie zu gestalten, weshalb der TSV sich auswärts leichter tut als daheim. Von den letzten acht Heimspielen gewannen die Münchner eines. „Unser Problem ist die Kreativität“, sagte Götz. Er könnte auch sagen: „Unser Problem ist der Fußball“, wiewohl Hannovers Sportdirektor Ricardo Moar wusste, dass es darum längst nicht mehr geht: „Fußball ist zur Zeit sekundär, es geht nur ums Überleben.“ Der große und schöne Fußball wird auch solche Sätze überleben. Und vor allen Dingen solche Spiele.“
Marc Beyer (FAZ 5.4.) schildert Ewald Lienens Erleichterung: „Am Samstagnachmittag um kurz vor fünf hielt Ewald Lienen nichts mehr auf den Beinen. Die ersten 74 Minuten des Spiels seiner Mannschaft Hannover 96 beim TSV München 1860 hatte er fast ausschließlich im Stehen begleitet, doch als der 2:0-Siegtreffer der Gäste durch Brdaric gefallen war, wurde es endlich Zeit für einen Sitzplatz. Auf der Bank der Niedersachsen breitete sich eine Gelassenheit aus, wie man sie in letzter Zeit selten erlebt hat. Beim Trainer nicht und schon gar nicht bei 96. Viel später, als der Sieg schon eine Weile feststand, hatte Lienen mehr Sitzfleisch. Seinen Stuhl im Pressesaal schien er kaum räumen zu wollen, so glücklich war er, „daß wir hier drei Punkte bekommen durften“. Allein diese Szene – ein einsamer, zufriedener Lienen auf einem großen Podium – sprach Bände. Der Münchner Kollege Falko Götz hatte die Veranstaltung längst verlassen. Nicht ohne sich beim Publikum für seine Spieler entschuldigt zu haben. Der Sieg, für Lienen der erste mit 96, für seine Mannschaft der erste seit dem 18. Spieltag, ist wie die Bestätigung einer abgedroschenen These: Irgendwann zahlt sich Arbeit aus. Zum ersten Mal seit November blieb die oft wacklige Abwehr, die von dem neuen Trainer spürbar stabilisiert wurde, ohne Gegentor. Daß der Auftritt im Olympiastadion dennoch Hannovers mit Abstand dürftigster unter Lienen war, tat nichts zur Sache. Im Gegenteil, er machte den Erfolg nur süßer.“
1. FC Köln – Eintracht Frankfurt 2:0
Ralf Weitbrecht (FAZ 5.4.) beleuchtet die Perspektiven beider Teams: „Diese Kölner sind nicht mehr zu retten. Sind sie es wirklich nicht mehr? Unbestritten: Dank der beiden Treffer von Ingo Hertzsch (Eigentor) und Lukas Podolski haben es die Kölner bislang auf zwanzig Punkte gebracht, liegen also immer noch acht Zähler von einem Nichtabstiegsplatz entfernt. Das ist viel, sehr viel sogar bei nur noch sieben ausstehenden Saisonspielen. Doch die Rheinländer, vor der Partie des ganz auf Defensive ausgerichteten Frankfurter Trainers Willi Reimann als „Frohnaturen“ bezeichnet, verspüren wieder Aufwind. „Ich rede nicht von der zweiten Liga, solange wir noch eine Chance haben, in der Bundesliga zu bleiben“, sagte der designierte FC-Präsident Wolfgang Overath. Der ehemalige Chefstratege als Muntermacher? (…) Vor knapp einem Jahr hatte Reimann in Frankfurt Wundersames vollbracht, glückte ihm mit der Eintracht doch der nicht für möglich gehaltene Aufstieg. Von dieser Begeisterung freilich ist in Frankfurt nichts mehr zu spüren. Dafür aber nehmen sie in Köln das Wort wieder in den Mund. „Wenn wir jetzt eine kleine Serie hinlegen, können wir ein kleines Wunder schaffen“, sagte Torwart Stefan Wessels. Das Wunder des Klassenverbleibs, bis zum 22. Mai möglich gemacht durch die Mithilfe vieler Nobodys? Gut vorstellbar, daß man sich Namen wie Giovanni Federico und Michael Niedrig merken muß, gehören sie doch seit der Suspendierung der beiden Stars Lottner und Heinrich zu den neuen hoffnungsvollen Bausteinen einer Kölner Mannschaft, die es am Samstag im Durchschnitt auf nur 24 Jahre brachte. Jugend gegen Alter, selten wurde der Generationenunterschied so deutlich wie beim 2:0, als der 18 Jahre Podolski dem 35 Jahre alten Eintracht-Urgestein Uwe Bindewald, noch immer einer der schnellsten Frankfurter, leichtfüßig davonsprintete und den 45500 Zuschauern eine Kostprobe seines Könnens zeigte. Selbst wenn das erhoffte Klassenziel Klassenverbleib doch nicht mehr erreicht werden sollte: Die Kölner Frohnaturen haben sich mit einer couragierten Vorstellung neue Sympathien bei ihrem Anhang erworben. Die Eintracht aber hat jetzt schon zum dritten Mal in Folge bitter enttäuscht.“
Erik Eggers (taz 5.4.): „Angesichts der Euphorie trat ein Eklat in den Hintergrund, der sonst nicht nur den Boulevard schwer beschäftigt hätte: Der Fall Dirk Lottner. Trainer Koller hatte den von Fans verehrten Kapitän am Freitag zur Überraschung aus dem Kader gestrichen, wie auch Jörg Heinrich. Beide hatten, so die Begründung, nicht mit letztem Einsatz trainiert, ein für Lottner „absolut lächerlicher“ Vorwurf, gegen den er sich in einem Interview heftig zur Wehr setzte. „Hier wurde doch monatelang nicht auf Trainingsleistung geachtet. Im Gegenteil. Hier sind Spieler am Tag vor einem Spiel mit einer Alkoholfahne zum Training gekommen“, sagte er am Samstag im Balkenblatt Express und fügte säuerlich hinzu: „So hat mich selbst Ewald Lienen nicht behandelt.““
Wenn man verliert, dauert eine Rückfahrt viel länger
Michael Horeni (FAZ 5.4.) beschreibt seltsame Frankfurter Methoden des Teambuildings: „Die Entdeckung der Langsamkeit bringt auch Nostalgiker nicht immer voran. Am Samstag machte sich eine illustre Frankfurter Reisegesellschaft ausnahmsweise mal auf äußerst eingefahrenen, ansonsten jedoch meist verschmähten Gleisen auf zum Auswärtsspiel beim 1. FC Köln. Vorstand, Alt-Internationale und ehemalige Meister wie Wolfgang Solz, Dieter Lindner, Josef Weilbächer und Ralf Weber, ein verletzter Kapitän Jens Keller, zahlreiche Sponsoren und was sonst noch zum auserwählten Anhängertroß eines Fußball-Bundesligaunternehmens zählt, nahmen schon morgens um zehn Uhr im legendären Weltmeisterzug von 1954 Platz. Diesmal kam es dieser notorisch auf Tempo abonnierten Klientel nicht auf Höchstgeschwindigkeit an, und anstatt auf dem schnellsten Weg mit dem ICE die Strecke in 70 Minuten hinter sich zu bringen, dauerte die Fahrt am idyllischen rechtsrheinischen Ufer über drei Stunden. Genug Zeit im Schatten von Sepp Herberger, Fritz Walter & Co also, um die Erinnerungen an die gute alte deutsche Fußball-Zeit aufleben zu lassen, dabei Geschäftliches zu besprechen – und auch die aktuell krisenhafte Lage der Frankfurter Eintracht ausführlich zu diskutieren. Im VT 08, dem sorgfältig restaurierten Nostalgiezug, der in Sönke Wortmanns „Wunder von Bern“ seine Renaissance erlebte, durften auch historische Parallelen gezogen werden. Heribert Bruchhagen, der Vorstandsvorsitzende des Klubs, indes schien die schlechten sportlichen Nachrichten, die am Nachmittag beim 0:2 gegen den Tabellenletzten auf die Eintracht noch zukommen sollten, schon auf der Hinfahrt geahnt zu haben. In seiner sachlichen und realistischen Betrachtungsweise sagte er der Frankfurter Reisegesellschaft en passant voraus, worauf sie sich für die Rückfahrt und die kommende Saison vorsorglich einstellen solle. „Wenn man verliert“, sagte Bruchhagen bei allen anderen netten und zuversichtlichen Worten, „dauert eine Rückfahrt viel länger“.“
Hertha BSC Berlin – Hansa Rostock 1:1
Wiederkehr der immer gleichen Sprüche
Und wöchentlich grüßt Hertha BSC Berlin Christian Ewers (FAZ 5.4.): „Bei den Fernsehübertragungen von Spielen des Bundesligaklubs Hertha BSC Berlin tut sich ein erhebliches Einsparpotential auf. Die gebührenfinanzierten öffentlich-rechtlichen Sender brauchen nämlich keine Tonaufnahmen mehr im Olympiastadion zu machen. Es genügt, ein paar Kameras aufzustellen – Wortbeiträge zu den Partien können ohne Aktualitätsverlust aus dem Archiv geholt werden. In Berlin wird ja seit Wochen doch immer dasselbe erzählt. Da gibt es den Manager Dieter Hoeneß, der stets „eine deutliche Reaktion der Mannschaft“ erwartet; da gibt es den Trainer Hans Meyer, der beklagt, man habe „zu wenig Fußball gespielt“; und da gibt es den Kapitän Arne Friedrich, der in verläßlicher Regelmäßigkeit feststellt, daß „wir alles versucht haben und am Schluß wieder die Deppen sind“. So ist es auch an diesem Samstag gewesen. (…) Hertha hatte wie schon oft in dieser Saison eine Führung aus der Hand gegeben. „Dieses 1:1 ist eine Niederlage für mich“, sagte Andreas Neuendorf, „wir wollten unsere Führung ausbauen, haben aber vergessen, hinten die Null zu halten. Jetzt müssen wir gegen Wolfsburg drei Punkte holen.“ Auch dies ist eine beliebte Berliner Redensart: Die Versäumnisse der Gegenwart in der nahen Zukunft wettmachen zu wollen, das hört man schon seit dem Herbst von den Herthanern. Gebracht hat es nichts. Nur die Tonmeister der Fernsehanstalten dürften sich über die Wiederkehr der immer gleichen Sprüche freuen. Ihre sperrigen Mikrofonangeln können sie nämlich getrost zu Hause lassen.“
Dahingegen hat Javier Cáceres (SZ 5.4.) neues vernommen: „War“s nur ein Verhaspler? Und wenn ja: wie viel Freud hatte sich in die Worte des Managers Dieter Hoeneß gemischt? Als er sich im Presseraum von seinem Stuhl in der ersten Reihe erhoben hatte, kaum da das Lachen über Trainer Hans Meyers letzte, ironisch-verblüffte Bemerkung erstorben war („22:19 Fouls! Sie haben recht! Wir haben weit mehr zugetreten als die Rostocker!“), da also raunte Hoeneß den Journalisten einen Satz zu, der zumindest in seiner Grundfarbe nach anfliegender Resignation klang: „Auch wenn“s schwer fällt“, sagte Hoeneß, „wir müssen weiter daran glauben – und kämpfen.“ Wer auch sollte es ihm verdenken? Hertha BSC Berlin hatte gegen den FC Hansa Rostock ein Unentschieden erzielt, sowohl Der Tagesspiegel („1:1 verloren“) als auch das Konkurrenzblatt Berliner Morgenpost („Hertha verliert 1:1″) wussten dies in ihren Sonntagsausgaben als Niederlage zu vermelden. Denn Hertha BSC bleibt Tabellenvorletzter und muss allerhand trübsalverheißende Fakten heranziehen. Zum Beispiel: dass der Abstand auf einen Nichtabstiegsplatz um einen Punkt angewachsen ist; dass die Mannschaft es zum dritten Mal in fünf Spielen hintereinander nicht vermochte, eine 1:0-Führung über die Zeit zu retten (wahlweise auszubauen); oder dass sie die schlechteste Heimbilanz aller Bundesligisten aufweist (zwölf Spiele, 13 Punkte). Weshalb sich Herthas Anhang allmählich auf ein neues Ostderby einstellen muss – gegen Erzgebirge Aue. Wo man sich doch gerade an die Rostocker gewöhnt hatte: der FC Hansa hatte ziemlich exakt seit dem Pleistozän keinen Punkt mehr in Berlin gewonnen. Dass es auch dieses Mal bei nur einem Punkt blieb und nicht zu einem Sieg reichte, ist womöglich auf über Jahre hinweg eingekrustete Komplexe zurückzuführen. Jedenfalls kam der FC Hansa selbst trotz der misslich zu nennenden Lage Herthas eher angeschlottert denn angereist: „Wir haben gewusst, dass wir auf einen starken Gegner treffen“, sagte Trainer Juri Schlünz. Sogar Kollege Meyer hob angesichts dieser Auskunft die Brauen und lugte frappiert über den oberen Rand seiner halben Brille. Doch Schlünz zwinkerte nicht.“
Schalke 04 – Hamburger SV 4:1
Fußballerischer Generationenvertrag
Ulrich Hartmann (SZ 5.4.) teilt Schalker Auffrischung mit: „Das Schalke-Musical geht ungefähr so: Der Verein steckt in Schwierigkeiten, ein lokalpatriotischer Nachwuchsfußballer kommt ins Team, spielt wie ein junger Gott – und alles wird gut. Das Ganze ist kein Witz. Das eigens komponierte Singstück mit dem Titel „Nullvier“ wird ab Ende Mai im Gelsenkirchener Musiktheater uraufgeführt. Im Jubeljahr seines 100-jährigen Bestehens dokumentiert Schalke 04 souverän die Bandbreite des Feuilletons. Und nun zum Sport. Die jüngsten Schalker Inszenierungen gingen ungefähr so: Der Verein steckt in Schwierigkeiten, lokalpatriotische Nachwuchsfußballer kommen ins Team, spielen wie die jungen Götter – und alles wird gut. Auch das ist kein Witz. Einige in das routinierte Ensemble integrierte Nachwuchskräfte sorgen auf Schalke dieser Tage für die Wiederaufnahme früherer Erfolgsinszenierungen, und mit dem 4:1 bekommen die Schalker Träume von der Rückkehr auf Europas Bühne eine neue Qualität. Was dem Publikum und den Rezensenten der Fachpresse dabei besonders gut gefällt, ist der Umstand, dass die Protagonisten dieses jüngsten Schalker Publikumserfolgs die bislang unbekannten Fußballer Michael Delura, 18, Christopher Heimeroth, 22, und Fabian Lamotte, 21, waren. Der Letztere tanzte über die Fußballbühne von Gelsenkirchen-Buer wie ein Travolta durchs Marionettentheater und kam allein in der ersten Halbzeit seines vierten Bundesligaspiels auf folgende beeindruckende Bilanz: Ein Tor vorbereitet nach einem 60-Meter-Solo, ein Tor selbst geschossen und einen Foulelfmeter verursacht. Das ist von der Ereignisdichte wie Wagners „Ring“ in fünf Minuten und sorgte beim Mimen Lamotte wie auch beim Regisseur Jupp Heynckes für freudige Fassungslosigkeit angesichts der Tatsache, dass ausgerechnet die jungen, unerfahrenen und kostengünstigen Spieler dem Verein sportliche Erfolge bescheren, die er zur Qualifikation für den Europapokal sowie zur damit einhergehenden Deckung seines gewaltigen Gehaltsetats gut gebrauchen kann. Ein fußballerischer Generationenvertrag. Die Jungen versorgen die Alten mit. In der Schalker Startelf standen am Samstag sieben Fußballer über 30 Jahre und vier unter 22. Da hat der Trainer Heynckes gewissermaßen eine juvenile Spielgruppe ins Seniorenheim integriert – und das ganze funktionierte auch noch.“
Allgemein
So einfach sollten es sich Trainer mit ihrer Analyse nicht machen
Peter Penders (FAZ 5.4.) stößt sich an der „Charakterfrage“: „Irgendwie erstaunlich, daß Fußball auch schon funktionierte, als diese Charakterfrage noch nicht gestellt wurde, sondern ganz simpel nur voller Einsatz für die gemeinsame Sache verlangt war. Wissen Trainer eigentlich immer, was sie da so reden? Charakter ist beim Individuum die Gesamtheit der geistig-seelischen Eigenarten des Menschen, in der Gruppe die Gesamtheit der eigentümlichen Merkmale und Wesenszüge. Beides ändert sich nicht über Nacht, schon gar nicht von Spieltag zu Spieltag. Einmal also zeigen sie Charakter, rennen das Spielfeld hoch und runter, grätschen, was das Zeug hält, spucken Gift und Galle und gewinnen; dafür aber lassen sie sich bei nächster Gelegenheit wieder hängen, kämpfen nicht gegen die Niederlage an, zeigen also wieder keinen Charakter? So einfach sollten es sich Trainer mit ihrer Analyse nicht machen, tun es aber gerade jetzt gerne, weil es auch schön ablenkt. So schnell aber kann niemand seinen Charakter wechseln, höchstens seine Motivation. Aber ist dafür nicht auch ein Trainer zuständig? (…) In Köln wurde Kapitän Lottner vor der Partie gegen Eintracht Frankfurt auf die Tribüne verbannt. Ausgerechnet dem Kölner Urgestein Lottner soll das Schicksal seines FC egal sein? Schwer vorstellbar. Ganz anders ist dagegen die Situation beim 1. FC Kaiserslautern, der es offenbar geschafft hat, so viele charakterlose Gesellen wie nur irgend möglich in den vergangenen Jahren auf dem Transfermarkt einzusammeln. Drei Spieler haben sie in der Pfalz mit Hengen, Freund und Anfang schon in der Winterpause aussortiert, dazu den Brasilianer Lincoln wenig später nach Südamerika zurückgeschickt. Vier weitere Profis setzte Trainer Kurt Jara nun gegen die Bayern auf die Bank, versuchte es mit einigen Vertragsamateuren und kündigte an, seine harte Linie weiter durchzuziehen. Der Profikader der Pfälzer ist so innerhalb von ein paar Monaten um acht hochbezahlte und vermutlich durchaus qualifizierte Mitarbeiter dezimiert worden. Da drängt sich die Frage auf, ob die Ursachen dieser Probleme tatsächlich nur innerhalb der Mannschaft zu suchen sind. Die Charakterfrage zu stellen mag modern sein, populistisch ist sie in jedem Fall.“
Er hat sich einen lapidaren Tonfall angewöhnt
Ernst Happel lebt weiter – in Felix Magath, meint Christian Zaschke (SZ 5.4.): „Ernst Happel war Anfang der Achtziger beim Hamburger SV ein Trainer, der seine Profis dann und wann solange durch den Wald scheuchte, bis sie kotzen mussten. Meistens tat er das, weil er schlechte Laune hatte, was oft daran lag, dass er in der Nacht im Casino ordentlich verloren hatte (Vorlieben: Roulette, Poker). Happel wechselte aus, wie er wollte. Franz Beckenbauer – ob als Teamchef der Nationalmannschaft oder als Coach des FC Bayern – hat seine Spieler so oft Rumpelfußballer genannt, dass sie manches Mal auf ihren Zimmern still geweint haben mögen. Bochums Peter Neururer hat kürzlich seinen Abwehrspieler Eduardo Gonçalves, genannt „Edu“, eingewechselt und wenige Minuten später ausgewechselt, was er mit Kommunikationsproblemen erklärte. Eine besondere Demütigung im Fußball, und Edu weinte öffentlich. Sucht man jedoch nach einem Trainer, der all diese Mittel der Spielerführung benutzt, so landet man bei dem Mann, den der Bremer Stürmer Ailton Gonçalves da Silva einst mit den Worten beschrieb: „Magath nix gut.“ Felix Magath, Trainer des VfB Stuttgart, der einst unter Happel beim HSV spielte. Nix gut? Lange führte er den Titel „Quälix“, weil er seine Spieler laufen ließ bis zum Letzten. Magath setzte Ailton zu seiner Zeit in Bremen auf die Tribüne und bot ihn zum Verkauf an. Am Samstag nun nahm er den Stürmer Marco Streller nach 28 Minuten vom Platz, obwohl dieser gerade ein Tor erzielt hatte. Er sei mit der Leistung des Stürmers nicht zufrieden gewesen, sagte Magath. Er hat sich einen lapidaren Tonfall angewöhnt, und es wäre nicht verwunderlich, wenn er demnächst einen leichten österreichischen Akzent entwickelt. Über eine eventuelle Zuneigung Magaths zum Glücksspiel ist noch nichts bekannt.“
Europas Fußball am Wochenende: Ergebnisse – Tabellen – Torschützen NZZ
Sonntag, 4. April 2004
Ballschrank
Feindselige Stimmung: “Stirb, Moslem, stirb”
Nicht nur Christian Eichler (FAZ 4.4.) ist vom Auftritt des 17-jährigen englischen Wunderknaben beim 2:0 über die Türkei begeistert, berichtet aber auch Betrübliches. „Der Star dieses Abends hieß Wayne Rooney. In der 88. Minute schenkte ihm der Trainer per Auswechslung einen rauschenden Abgang aus dem Stadium of Light von Sunderland, dessen 48.000 Besucher sich im Beifall erhoben. Der Guardian schrieb pathetisch: Rooney erleuchtete das Stadion des Lichts. Leider trübte eine Altlast das glänzende Bild. Mit der Festnahme von 95 englischen Hooligans vor dem Spiel verhinderte die Polizei zwar Eskalationen, wie sie bei englisch-türkischen Auseinandersetzungen noch vor drei Jahren (im Uefa-Cup zwischen Galatasaray Istanbul und Leeds United) zu zwei Toten geführt hatten. Doch Stadiongesänge wie Stirb, Moslem, stirb zeugten von der feindseligen Stimmung. Und besonders die Vorfälle nach den beiden englischen Toren, als Dutzende Fans aufs Feld stürmten und Spieler umlagerten, werden Folgen haben. Nach Schlußpfiff gerieten mindestens drei türkische Spieler, Alpay, Rüstü und Hakan Sükür, mit aggressiven englischen Fans in Handgreiflichkeiten. Daß Zuschauer zu den Spielern vordringen können, ist ein Gau für jede Form von Stadionsicherheit. Es ist eine schwierige Sache mit der Leidenschaft im Fußball – mal zuviel, mal zuwenig. Wenigstens am Ball fanden die Engländer die richtige Dosis. Kein Team der europäischen Klasse ist so abhängig davon, Tempo und Intensität eines Spiels zu bestimmen. Eine halbe Stunde wurde das von den geschickten Türken verhindert. Dann aber entwickelten die Engländer jene Mischung von Tempo, Passion und Präsenz, die ihre Fans lange vermißt hatten. Daraus resultierte fast ein Dutzend Chancen (…) David James, der bei West Ham United die Schießbude der Premier League hütet, verhinderte den Ausgleich mit einer Blitzreaktion gegen Nihat. Bei dessen Kopfball hätte der verletzte Stammtorwart David Seaman wohl nicht einmal den Pferdeschwanz vor Ausbeulen des Netzes herumbekommen. So fügte sich für Eriksson, zuletzt in der Kritik wie nie zuvor seit seinem Amtsantritt vor zwei Jahren, an diesem Abend alles ins Glückliche: das Torwartproblem; die Neuordnung im Mittelfeld, in dem er die klassisch-englische Viererreihe durch Verschieben von Butt hinter Scholes gegen ein Muster getauscht hatte, das man in England den Diamanten nennt; vor allem aber durch den Diamanten Rooney. Daß er ein großes Talent ist, wußten wir vorher, sagte Eriksson. Aber nun wissen wir, daß er schon bereit ist für die großen Spiele.“
Rooney war pure Energie
Ronald Reng (FTD 4.4.) berichtet ein intensives Spiel. “Alpay Özalan, der kräftige türkische Verteidiger, wollte das Spiel immer noch gewinnen, auch als es schon vorbei war. Der Trotz, der Sportler oft packt, wenn ihnen die Niederlage ins Gesicht starrt, trieb ihn zu einer außerordentlichen Energieleistung: Er prügelte sich mit Ray Clemence, dem englischen Torwarttrainer, im Kabinengang. Dieses Spiel lebte in allen, die am Mittwoch in Sunderland zugesehen hatten, noch lange nach dem Schlusspfiff weiter. In denen, die es gespielt hatten, tobte es. Hakan Sas, der bei der WM 2002 mit so feinen Tricks am Ball aufgefallen war, wurde von einem türkischen Betreuer geohrfeigt. Es schien das einzige Mittel, Sas davon abzuhalten, auf englische Fans loszugehen. Steven Gerrard, der mit einem Kraftakt England zu diesem 2:0-Sieg in der EM-Qualifikation getrieben hatte, stellte sich direkt vor den türkischen Kapitän Bülent Korkmaz, um ihm ins Gesicht zu jubeln – die ultimative Erniedrigung. Hier waren zwei Mannschaften, die sich was beweisen wollten. Mit dem Lebenshunger des Aufsteigers suchte die türkische Elf nach ihrem dritten Platz bei der WM die Bestätigung, wirklich zu den Großen zu gehören. England wollte zeigen, dass es nach einem halben Jahr ärmlicher Resultate noch Wer ist. Ihren Führungsanspruch in der Fußballwelt haben in Sunderland beide untermauert. „Gewonnen hat heute die Elf, die mehr gewinnen wollte “, sagte der türkische Trainer Senol Günes: „Wir wussten keine Antwort auf die englische Sehnsucht.“ Die Perspektive, die Eriksson gegen die Türkei aufzeigte, ist neu. Bislang extrem konservativ in seiner Taktik, schloss der schwedische Trainer endlich einen Pakt mit dem Risiko. Statt des hart arbeitenden, aber frustrierend ineffektiven Liverpooler Stürmers Emile Heskey, der dabei war, Englands Carsten Jancker zu werden, nahm Eriksson den jüngsten Nationalspieler der Geschichte, den 17-jährigen Wayne Rooney vom FC Everton, erstmals in die Startformation und ordnete das Mittelfeld in Diamantenform an, mit Paul Scholes weit vorgezogen. Rooney war pure Energie. Das offensivere Mittelfeld gewann das Spiel.“
Spielbericht Litauen – Schottland (1:0) FR
Das Schweizer Nationalteam sieht sich inzwischen höheren Erwartungen ausgesetztNZZ
Gewinnspiel für Experten
Samstag, 3. April 2004
Ballschrank
Fußball am Samstag
ist die Debatte um die Berner Helden weitere Recherche und Kommentierung wert? Erik Eggers (FR) meint „ja“ – was soll man auf die Aussagen Franz Beckenbauers, etwa seine Rückendeckung für Hitzfeld, geben? Elisabeth Schlammerl (FAZ) meint „nichts“ – Deutschlands große Zeitungen prophezeien die Entlassung Jürgen Röbers in Wolfsburg; „die VfL Wolfsburg Fußball GmbH ist kein normaler Fußballklub“ (SZ) u.a.
Erik Eggers (FR 3.4.) resümiert die Debatte um den Mythos von Bern – und treibt sie voran: „Ist der Mythos 1954 zu stark? Der Berichterstattung nach sieht es so aus, hatten die Recherchen der letzten Tage doch nur wenig Weltmeisterliches an sich. Die FAZ etwa reagierte erst am Freitag in einem Kommentar, der „Zeitung für Deutschland“ zufolge ist die Sache eine reine Mediengeschichte: „Was dieser ziemlich schattenhafte Report damit suggerieren will, ist vollkommen klar: Das Wunder von Bern ist ungültig – Herbergers Jungs waren gedopt!“ Ähnlich reagierten die Agenturen, allen voran der Sportinformationsdienst aus Neuss, der eine Reihe von Experten präsentierte, die eine Dopingpraxis bei der WM 1954 kategorisch ausschlossen. Allein die SZ befand, dass die Frage „genauer behandelt“ gehöre, wegen der Gelbsuchtepidemie und der Mentalität, die hinter der Spritzerei stecke. Was das angeht, könnte ein Artikel im Spiegel weiterhelfen, der am 19. Mai 1954 unter dem provokanten Titel „Sauerstoff-Stürmer“ erschien. Den Leser empfängt ein seltsames Foto: Um eine große „Oxygen-Flasche“ herum gruppiert liegen – die Beine schräg nach oben – eine Reihe von Fußballspielern, die durch Schläuche hindurch reinen Sauerstoff inhalieren. Der Text verhandelt den künstlich zugeführten „Kampfgeist aus der Flasche“, der von Schweizer Fußball-Nationalmannschaft bei der WM-Generalprobe im April 1954 in Basel gegen die Herberger-Elf ausprobiert worden war. „Unsere Spieler haben in der Halbzeit eine Sauerstoffpumpe erhalten“, bestätigte deren Trainer Carl Rappan und liefert damit, so der Spiegel, „den verwirrten deutschen Fans eine maßgerechte Patentlösung für das Rätsel von Basel: Nicht mangelhafte Kondition der Deutschen, sondern die durchdachte Anwendung neuzeitlicher Alchimie beim Gegner war an dem verqueren Spielverlauf schuld.“ Die Deutschen hatten klar 4:0 geführt und am Ende noch glücklich 5:3 gewonnen. Dieser Text diskutiert seriös, ob die Sauerstoff-Aufnahme als „Doping“ zu betrachten sei. Und er weist darauf hin, dass Fachorgane wie die L‘Equipe diese Form der Leistungssteigerung angepriesen hatten. Der DFB habe diese Praxis im Jahr 1952 zwar als „unsportlich“ erachtet. Nun jedoch, nur wenige Wochen vor dem im Juni beginnenden WM-Turnier, habe der DFB offenbar seine Meinung revidiert, Trainer Herberger jedenfalls habe sich bei einem Insider über diese Form der Leistungssteigerung informiert. „Wenn wir in die Schweiz fahren und die anderen werden mit Sauerstoff aufgepumpt“, sagte DFB-Pressesprecher Carl Koppehel, „weiß ich nicht, ob wir es nicht ebenso machen sollen“. Benutzt hat diese Zeitdokument bisher indes keine deutsche Sportredaktion, obwohl der Spiegel es am Mittwoch – parallel zum Bild-Titel – als Teil eines Dossiers über 1954 online stellte. Das Nachrichten-Magazin aus Hamburg hält das Thema offenbar für nicht beerdigt.
Keiner fliegt so schön wie Amoroso
„Am Sonntag werden über 80 000 Betriebswirtschaftsstudenten wider Willen auf den Rängen wieder einem Spiel zuschauen“, schreibt Freddie Röckenhaus (SZ 3.4.) über das Befinden der Dortmunder Anhänger: „Gemeinsame Feinde stärken seit jeher die Freundschaft. Und so freut man sich dieser Tage an Dortmunds Rheinlanddamm, in der Konzernzentrale der Borussia, nicht nur an den Frühlingsknospen vor den Fenstern, sondern auch daran, wie freundlich die Anhängerschaft den Rauswurf oder Abgang, auf jeden Fall die spektakuläre Vertragsauflösung mit dem einstigen Liebling Marcio Amoroso aufgenommen hat. „Keiner fliegt so schön wie Amoroso“ triumphierte eines der beiden konkurrierenden Internet-Fanmagazine ganz im Einklang mit der Chefetage des BVB, die ansonsten in den verschiedenen Internet-Foren für ihre Verschuldungs-Politik immer heftiger niedergemacht wird. Im Gegenzug buhlen die Borussen-Bosse Gerd Niebaum und Michael Meier um die Zuneigung der BVB-Fans wie noch nie. Vor dem Lokalderby am Sonntag, gegen den nur zwölf Kilometer entfernten Nachbarn VfL Bochum, ist die Gesichtspflege auch nötig. Denn den meisten BVB-Fans stößt der Erfolg des jahrelang belächelten kleinen VfL besonders bitter auf, weil dort, direkt vor der eigenen Haustür, mit einem Jahresetat gewirtschaftet wird, der kleiner ist als die Ablösesumme, die der abgehobene BVB für einen einzigen Amoroso verpulvert hat. Sollte Dortmunds für die Champions-League eingekaufte Zuckertruppe gegen Bochums Low-Budget-Team keine drei Punkte im Westfalenstadion behalten, dürfte der Unmut hochgehen – mit den Stars, mit Trainer Matthias Sammer und mit dem Vorstand, den die Hälfte der Anhänger offenbar lieber heute als morgen aus dem Amt jagen würde. Wenn es denn ginge – und wenn eine personelle Alternative bereit stünde. „Es gibt wichtige Oppositionelle“, beschreibt ein BVB-Intimus die Lage, „aber noch keine Opposition. Man wartet ab. Es kann nicht mehr lange dauern, bis den Teller-Jongleuren Niebaum und Meier die ersten rotierenden Teller vom Stöckchen fallen.“ Offenbar warten die Widersacher des amtierenden Borussen-Managements vor allem auf zwei Ereignisse: Die Entscheidung der DFL, ob und unter welchen Auflagen oder gar Bedingungen dem massiv verschuldeten BVB eine Lizenz für die kommende Saison erteilt wird. Und was die Finanziers und Aktionäre des Klubs im Falle eines Lizenzentzugs oder Beinahe-Entzugs tun würden. Dass die Borussia die Lizenz ohne Auflagen erhalten könnte, halten Kenner der Lizenzierungs-Methoden der DFL für unwahrscheinlich. Der aktuelle Stand der Verbindlichkeiten soll bei rund 140 Millionen Euro angekommen sein.“
Elisabeth Schlammerl (FAZ 3.4.) misstraut Beckenbauers Rückendeckung für Ottmar Hitzfeld: „Beckenbauer widersprach sich schon einen Tag später wieder und leistete einen beachtlichen Anteil an neuen Spekulationen. „Irgendwas muß passieren, die Verfassung der Mannschaft stimmt nicht“, sagte er in einem Interview mit dem „kicker“. Beckenbauer hat damit wohl nicht nur die psychische Verfassung gemeint, sondern wohl in erster Linie die körperliche. Schon seit längerem übt Beckenbauer Kritik am Trainingsprogramm von Hitzfeld. Es sei zu lasch, so sein Vorwurf. Die Rollen beim FC Bayern sind klar verteilt. Manager Uli Hoeneß möchte Hitzfeld gerne behalten, wenigstens bis zum Ende des laufenden Vertrages 2005. Vorstandsvorsitzender Karl-Heinz Rummenigge ist sich noch nicht so sicher, allerdings zieht er sich zum Grübeln nicht ins stille Kämmerlein bzw. in sein großzügiges Büro an der Säbener Straße zurück, sondern teilt der Öffentlichkeit den Stand der Entscheidungsfindung mit. Dies zeigt auch, wie groß die Distanz zwischen ihm und Hitzfeld in den vergangenen Monaten geworden ist. Beckenbauer ist schon weiter als Rummenigge, für ihn stet längst fest, daß die Mannschaft nur ein neuer Trainer noch weiterbringen könne. Er wirkt zwar nicht mehr im operativen Geschäft, hat deshalb keinen unmittelbaren Einfluß mehr, aber sein Wort hat beim FC Bayern immer noch Gewicht. Vor allem, wenn sich seine Meinung in vielen Punkten mit der von Rummenigge deckt. Die Ära Hitzfeld beim FC Bayern neigt sich ihrem Ende entgegen. Die Frage ist nur noch, ob schon nach dieser Saison oder erst 2005. (…) Die Spekulationen dürften Hitzfeld die Arbeit mit der Mannschaft nicht gerade erleichtern. Die meisten Spieler stehen zwar hinter Hitzfeld, vor allem Kapitän Oliver Kahn hat sich wiederholt für ihn stark gemacht, aber es gibt Beispiele genug, die zeigen, daß die Autorität des Trainers schwindet, wenn der Rückhalt der Vereinsoberen nachläßt.“
Deutschlands neue Rätselhauptstadt
Jan Christian Müller (FR 3.4.) beschreibt die Sorgen des VfL Wolfsburg und seines Trainers: „Es lohnt sich, zwischen den Bahnhöfen Braunschweig und Berlin auf Höhe Wolfsburg zum richtigen Zeitpunkt links aus dem ICE zu schauen. Der schnelle Zug hält nur manchmal an. Meistens fährt er ungebremst weiter durch die Stadt, dessen führender Fußballclub nach jüngsten Erhebungen die wenigsten Fans der Liga für sich begeistern kann. Links der Gleise liegt sie, die imposante VW-Arena. Das Symbol der Zukunft für den VfL. Doch ist diese Zukunft schon vorbei, ehe sie begonnen hat? Die DFL hat den Bundesliga-Aufsteiger von 1997 nach einer ersten Auswertung der Lizenzunterlagen und einem flüchtigen Blick auf die Bundesliga-Tabelle freundlich, aber bestimmt aufgefordert, auch einen Aktenordner für den Abstiegsfall abzuliefern. Das ist unangenehm und im Master-Plan, der die VfL Wolfsburg Fußball-GmbH in dieser Saison auf einen Uefa-Cup-Platz bringen sollte, nicht vorgesehen. Die Wolfsburger investierten im Sommer gegen den Branchentrend weit über zwölf Millionen Euro in Fußballerbeine, was allerdings folgenlos für die Platzierung in der Bundesliga-Tabelle blieb. Im Gegenteil: Der Trend zeigt abwärts, und zwar durchaus bedrohlich. Stolz können sie in „Deutschlands neuer Rätselhauptstadt“ (Wolfsburger Allgemeine Zeitung) derzeit nur aufs schöne Stadion und das frisch aufgelegte Rätselheft aus Wolfsburger Produktion mit dem einprägsamen Titel „Knack mich“ sein. Die Realität in Fußball-GmbH und Auto-Konzern ist dagegen vergleichsweise trostlos. Der Absatz des neuen Golfs kommt nur behäbig in Gang, die Fußballprofis seit der Winterpause überhaupt nicht mehr. So kommt es, dass sich der erst zu Saisonbeginn (entgegen dem ausdrücklichen Wunsch des Managers Peter Pander) verpflichtete Trainer Jürgen Röber vor dem heutigen Spiel gegen den VfB Stuttgart einer unangenehmen Situation ausgesetzt sieht. Der 50-Jährige, ein in seiner Umtriebigkeit kaum zu bremsender Mann mit mitunter übertriebenem Eifer, darf sich eine Niederlage jedenfalls nicht leisten, womöglich noch nicht einmal ein Unentschieden.“
Die VfL Wolfsburg Fußball GmbH ist kein normaler Fußballklub
Jörg Marwedel (SZ 3.4.) fügt hinzu: „Es ist wieder viel los in Wolfsburg an diesem Samstag: Erwartet wird in der Volkswagen-Arena die Rallye-Fahrerin Jutta Kleinschmidt; überdies verbringen 67 VW-Händler einen Teil ihres „Exklusiv-Wochenendes“ beim Bundesliga-Spiel des VfL gegen Stuttgart. Eingeladen wird auch zum „Kopfball-Contest“, bei dem geschickte Fans im Rahmen der jüngsten Imagekampagne des VfL diverse Preise gewinnen können. Zu berichten ist schließlich von der Versteigerung zweier Trainerstühle, die via Internet 893 Euro zu Gunsten der Krzysztof-Nowak-Stiftung einbrachte. Die Sache mit den Trainerstühlen entbehrt freilich nicht der Doppeldeutigkeit. Auf einem der Exponate saß bis vor kurzem noch Jürgen Röber, 50, der amtierende Coach des VfL. Und ob ihm nun auch das verbliebene Sitzmöbel unter dem Allerwertesten weggezogen wird, darüber werden, wie es aussieht, die 90 Minuten gegen Stuttgart entscheiden. Fest steht schon jetzt: Die Trainerfrage ist in Wolfsburg zum Politikum geworden, das die Grenzen einer normalen Personalie sprengt. Wäre der VfL Wolfsburg ein normaler Fußballklub und keine 90-prozentige Tochter der Volkswagen AG, die Angelegenheit wäre wohl längst nach den Gepflogenheiten der Liga geregelt worden – mit dem Hinauswurf des Trainers, der den VfL mit sieben Niederlagen in neun Rückrundenspielen in die Nähe der Abstiegszone statt in die angepeilten Uefa-Cup-Ränge geführt hat und zudem nicht gerade mit Manager Peter Pander harmoniert. Doch die VfL Wolfsburg Fußball GmbH ist kein normaler Fußballklub, und deshalb spielten noch ganz andere Kriterien eine Rolle, als sich der mit etlichen Werksvertretern besetzte Aufsichtsrat in dieser Woche im VW-Gästehaus Rothehof traf, um über Röbers Zukunft in Wolfsburg zu beraten. Heraus kam dabei Röbers wohl letzte Chance. Zu verdanken hat er dies weniger der Gnade seiner internen Richter, von denen einige sich im vergangenen Jahr noch vehement dafür einsetzten, dass er einen Vertrag bis 2006 bekam. Vielmehr treibt sie die Sorge um, das soziale Ansehen des Autokonzerns könne Schaden nehmen, wenn angesichts des aktuellen Geschäftsgangs, der zu drastischen Sparmaßnahmen zwingt, beim Ableger eine Führungskraft mit Millionenabfindung vor die Tür gesetzt wird. „In so einer Lage mit Geld um sich zu schmeißen“, sagte VfL-Geschäftsführer Klaus Fuchs, „passt nicht ins Bild, das VW abgeben will.““
Frank Heike (FAZ 3.4.) ergänzt: „Die Wolfsburger Defensive ist nicht erstligatauglich, aber da Spieler nun einmal nicht entlassen werden (und machen sie noch so viel falsch), muß der Trainer den Kopf hinhalten. Röber hat das in dieser Woche professionell und erstaunlich ruhig getan. Er hat sogar Befriedungssignale in Richtung Peter Pander geschickt – das Verhältnis zwischen Trainer und Manager ist kaum mehr als geschäftsmäßig. „Ich gebe mir Mühe, daß es besser wird, weil ich nur in Harmonie arbeiten kann“, sagt Röber. Er versucht sich in der Krise zurechtzufinden und verspürt doch den großen Druck des Gewinnenmüssens: Bei einer Niederlage gegen den VfB Stuttgart wird er seinen Job in Wolfsburg mit großer Wahrscheinlichkeit verlieren. Der VfL war mit ehrgeizigen Zielen und teuer verstärkt in die Saison gestartet. Nun steht er wegen einer ganz schwachen Rückrunde nur noch fünf Punkte von einem Abstiegsrang entfernt.“
Moritz Küpper (FR 3.4.) schildert die Strategie Wolfgang Overaths in Köln: „Berater des Präsidium nennt sich Overath jetzt, 2005 soll er Caspers als Präsident beerben. Doch die Macht im Geißbockheim hat der Weltmeister von 1974 jetzt schon. Vergangene Woche saß er bei der wöchentlichen Pressekonferenz, bei der sonst nur Trainer Koller und Manager Andreas Rettig sitzen. Viel Substantielles gab es nicht, stattdessen war es eine Vorführung der neuen Machtverhältnisse. Overath thronte zwischen den Protagonisten des alltäglichen Geschehens und gab den Takt vor. Ähnlich wie bei Bayern München schwebt ihm ein Konzept vor, in dem ehemaligen FC-Größen aus sportlich besseren Zeiten den Verein wieder auf Vordermann bringen. Aber nicht nur auf diesem Gebiet orientiert sich Overath am Rekordmeister. Er intensiviert die Zusammenarbeit mit den Münchnern auf dem Gebiet der Nachwuchsförderung. Junge Bayern-Talente sollen in Köln Spielpraxis bekommen.“
Christian Eichler (FAZ 3.4.) fragt: „Textile Psychologie? Modischer Aberglaube? Egal, solange es hilft. In manchen Sachen fühlt man sich einfach stärker, selbstbewußter; dazu gehört vielleicht auch die Erinnerung, die mit ihrem Design verbunden ist. Ist sie negativ, zieht man sich besser um. Brasilien zum Beispiel verlor 1950 in Rio den sicher geglaubten WM-Titel gegen Uruguay. Als eine der Ursachen wurde das Trikot ausgemacht: weiß mit blauem Kragen und damit zu „unpatriotisch“. So wurde ein Wettbewerb ausgeschrieben, ein neues Nationaltrikot zu finden: mit allen Farben der brasilianischen Flagge, Gelb, Grün, Blau, Weiß. Unter 300 Vorschlägen gewann der Entwurf des neunzehnjährigen Aldyr Garcia Schlee: gelbes Hemd mit grünem Kragen und grünen Manschetten, blaue Hose mit weißem Streifen, weiße Strümpfe. Es wurde einer der größten Modehits der Welt. Zum ersten Mal spielte Brasilien vor fünfzig Jahren, im Frühjahr 1954, in dieser Kombination. Doch bei der folgenden WM brachte sie noch kein Glück, man scheiterte an Ungarn. Vier Jahre später, beim ersten WM-Sieg, mußte man andersfarbig spielen, weil Finalgegner Schweden Gelb trug. 1962 endlich der erste WM-Erfolg in Gelb, aber eigentlich erst 1970: Denn diese WM war die erste im Zeitalter des Farbfernsehens; die erste, die der Welt farbigen Fußball bot. Das schwarz-weiße Outfit der „Helden von Bern“ konnte schon 1954, schon im Schwarzweiß-Zeitalter, eine textile Kontinuität begründen, eine Aura weltmeisterlicher Autorität, die noch heute jeden Novizen beim Schlüpfen ins Nationaltrikot anweht. Die Farbe des brasilianischen Fußballs, das wunderbare Sonnengelb von „Brazil“, das zu verbreiten sich Nike 1996 mehr als 100 Millionen Dollar kosten ließ, führt dagegen für immer auf jene WM-Wundermannschaft um Pelé von 1970 zurück – damals, als der schöne Fußball gelb wurde. Seitdem kleidet dieses Trikot ein Lebensgefühl: Man schlüpft hinein und fühlt „Brazil“. Fünfzig Jahre nachdem es auf die Welt kam, soll es Männer in ähnlichem Alter geben, die sich zum Geburtstag keinen dezenten Seidenschlips wünschen, sondern ein knallgelbes Kunstfaserleibchen. Und es dann tagelang nicht mehr ausziehen.“
Freitag, 2. April 2004
Ballschrank
Sonstiges
„Mythos Bern im Medientest“ (FAZ) – „Dynamo Dresden peilt Zweitliga-Aufstieg an, droht aber an gewaltbereiten Fans zu scheitern“ (SZ) – Wirtschaftswoche prüft Logen in Deutschlands Stadien u.v.m.
Bei der Suche nach neuem Stoff wird alles mögliche zu Tage gefördert
Michael Horeni (FAZ 2.4.) beklagt die Anklage einiger Journalisten gegen die Berner Helden: “Damals konnten Fußball-Wunder tatsächlich noch mit allen möglichen Substanzen und Stimulanzien im Körper möglich gemacht werden – es stand nicht unter Strafe. Aber nun ist der Verdacht in die Welt gesetzt, und ist es nicht ein weiteres Indiz für unlautere Methoden, daß es bald nach dem Titelgewinn zu zahlreichen Fällen von Gelbsucht bei den Weltmeistern kam? Bei dieser Art von Unterstellungen fällt es nicht schwer, von der Gnade der frühen Geburt zu sprechen. Damals noch wurden deutschen Sporthelden solche Fragen nicht gestellt – und Geschichten, die am Mythos kratzen, nicht in dieser Weise gemacht und vermarktet. Was die Väter aller deutschen Fußball-Helden in ihrem Jubiläumsjahr derzeit erleben, ist so etwas wie ein verspäteter Realitätsschock. Die Medien stürzen sich auf das deutsche Jahrhundertereignis Bern, und bei der Suche nach neuem Stoff wird alles mögliche zu Tage gefördert: Schönes, Wahres, Unangenehmes, Halbwahrheiten, Lügen. Vor einigen Tagen etwa wurde beschrieben, wie einige Ersatzspieler von damals sich heute weigern, ohne Bezahlung über ihre Erlebnisse von damals zu sprechen. Nun erleben die Männer der Nachkriegszeit, wie sie auf einmal selbst zu Mitgliedern der Sportunterhaltungsindustrie des 21. Jahrhunderts werden – mal aktiv, mal passiv. Ihrem Mythos wird das nicht mehr schaden. Aber diese Erfahrung kann all jenen nutzen, die in ihrem moralischen Urteil über die Nachfahren der Weltmeister aus der guten alten Zeit so siegessicher sind.“
Bernd Müllender (taz 1.4.) sieht das ähnlich und befürchtet Schlimmeres: „Sind wir unsportliche Pfuscher? Deutschland, einig Betrügerland? Es wird weitergehen mit den Enthüllungen der nationalen Miesmachergilde. Der Spiegel sitzt an einer großen Story über die gespritzten Antihelden von 1954; Stefan Aust hat dem Vernehmen nach das Ganze zur Chefsache erklärt. Die Geschichte wird im April erscheinen, zeitgleich mit dem nächsten Enthüllungsbuch – von ZDF-Historiker Guido Knopp. Und darin wird es, so viel ist jetzt schon durchgesickert, erst recht zur Sache gehen. Mit scheußlichen Details. Und neuen Beweisen, was Toni Turek zum Fußballgott gemacht hat. Wir sehen eine internationale Verschwörung am Werk: Ungarn wird sich bestätigt fühlen, dass seine Wundermannschaft nur mit Liebrichs brutalem Foul an Ferenc Puskas im Vorrundenspiel und eben mit Ampullen besiegt werden konnte. Ob Ungarn darauf verzichten wird, mit diesen Deutschen gemeinsame Sache in einer EU zu machen, wird sich zeigen. Auch ob Lothar Matthäus als Ungarns Bundestrainer noch tragbar sein wird. International wird der deutsche Fußball isoliert: Vor allem in England werden sie höhnen über die Spritzen-Krauts und Doping-Panzer. Ob die WM 2006 in Deutschland bleiben kann? Aus dem Hintergrund hatte Rahn geschossen, getroffen, und das wird immer so bleiben – selbst wenn er sich vorher einen Schuss gesetzt hat. Da können vaterlandslose Nestbeschmutzer wie Bertram, Knopp und Aust noch so viele Absurditäten ans Licht befördern. Die Spieler haben eben alles gegeben, Gesundheit und sogar das Leben.“
Roland Zorn (FAZ 2.4.) meldet, dass Wolfgang Holzhäuser Wilfried Straub als Vorsitzender der DFL ablösen wird: „Holzhäuser genießt den Ruf, genauso kundig in der Sache Bundesliga wie der jetzige DFL-Vorsitzende Straub zu sein. Während der aber im Zweifel dezent und auf der Grundlage seiner Lebenserfahrung ans Werk geht, hat sein designierter Nachfolger das Licht der Öffentlichkeit ein paar Mal zu oft gesucht. Zuletzt hat sich Wolfgang Holzhäuser merklich gebremst und nicht zu allem und jedem, was die Bundesliga bewegt, prompt Stellung bezogen. Das könnte ihm schwergefallen sein, hat ihm aber mehr Pluspunkte als so mancher eilige Reformvorschlag eingebracht.“
Gefühl des ostdeutschen Underdogs
„Dynamo Dresden peilt Zweitliga-Aufstieg an, droht aber an gewaltbereiten Fans zu scheitern“, schreibt Jens Schneider (SZ 2.4.): „Im VIP-Raum des Dresdner Rudolf-Harbig-Stadions ist es plötzlich ganz ruhig geworden. Keiner der Jugendlichen aus der Schulklasse, die an diesem Vormittag aus einem kleinen Ort bei Dresden gekommen ist, kichert noch. Einige der 14 und 15 Jahre alten Jungen schauen konzentriert weg, durchs Fenster hinaus auf den leeren Fußballplatz. Gerade hat die Klasse in einem Rollenspiel nacherlebt, wie beklemmend es sich anfühlen kann, in die Rolle eines Fans zu geraten, der aggressiv beschimpft wird. Oder wie es sein dürfte, als Polizist einer pöbelnden Meute gegenüber zu stehen. Jetzt hat Thorsten Rudolph, der Leiter des Fan-Projekts bei Dynamo Dresden, zum Abschluss eine schlichte Frage gestellt: „Warum gehst du zum Fußball?“ Die Schüler gaben zögerlich Stichworte: Dass man seinen Verein unterstützen, mit Freunden zusammen sein will, sich einfach für das Spiel begeistert. Einer aber mit braunen Locken, Zahnspange und gelbem Dynamo-Schal, hat einfach gesagt: „Zum Schlagen!“ Nicht als Provokation. Als Feststellung. Rudolph hat das erst mal notiert, nun zählt er den Jugendlichen auf, was das bedeutet: „zum Schlagen“. Mit jedem seiner Sätze werden sie stiller. Wenn es knallt, sagt er, ist es jedes Mal ein Genickschuss für Dynamo. Längst stehe der Verein auf der roten Liste – „passiert noch mal was, ist die Lizenz in Frage gestellt“. Der Student der Sozialpädagogik erklärt auch, dass die Probleme nirgendwo so gravierend sind wie hier. Er appelliert: „Denkt daran, dass ihr Euch nicht was für“s Leben verbaut!“ Gerade habe ein Steinewerfer, der einen Zuschauer aus Chemnitz verletzte, 15 Monate Haft bekommen. „Ich kann keinem Gästefan empfehlen“, sagt er, „nach Dresden zu kommen“. Als die Jugendlichen gegangen sind, rätselt der 24-Jährige Student, ob er junge Menschen wie diese mit seinem Anti-Gewalt-Training erreicht. Eine Verbesserung, sagt er, könne es nur langfristig geben. Dem Verein aber steht die Problematik jetzt schon bis zum Hals. Ja, bestätigt Achim Exner, der Sicherheitsbeauftragte von Dynamo Dresden, was diese „beschissene Lage“ angehe, sei man wohl einzigartig. (…) Das Gefühl des ostdeutschen Underdogs, der stolz ist, dass man sich anderswo vor ihm fürchtet, wird in Teilen der Fan-Szene gepflegt. Es sind nach Polizei-Schätzung etwa 150 Gewaltbereite, die Konfrontation suchen. Und es sind immer mehr 13- oder 14-Jährige darunter. „Es fehlen“, so Pätzold, „die Älteren, die auch eine soziale Kontrolle ausüben“. Im Stadion selbst gebe es kaum Probleme. Dort kriege der Verein die Situation in den Griff. Gegen Dynamo-Anhänger sind in Absprache mit dem DFB mehr als hundert Stadionverbote ausgesprochen worden, weitere 60 verhängte der Verein selbst. Zur Eskalation kommt es meist draußen vor dem Stadion. Die Sicherheitsexperten erklären das auch mit dem veralteten Stadion und seinem unkontrollierbaren Umfeld. Es liegt im Zentrum, umgeben von Parks – mit dem Gästeblock zwischen zwei Eingängen für die Heim-Fans. Es gebe kaum die Möglichkeit, auswärtige Zuschauer an gewaltbereiten Fans vorbei ins Stadion zu bringen, sagt Exner. Forderungen nach einem Umbau des Stadions scheitern an Finanznöten. Nein, hilflos fühle er nicht, sagt der Sicherheitsbeauftragte. Aber: „Ich fühle mich allein gelassen von den Politikern. Die sollen hier ihre sozialen Probleme lösen.“ Er weiß nicht, wie viel Hoffnung er in sozialpädagogische Fan-Projekte setzen soll. Aber dass die Stadt nur ein paar tausend Euro dafür bereit stelle, mache ihn ziemlich wütend.“
Thorsten Firlus (Wirtschaftswoche 1.4.) hat Logen in deutschen Stadien besucht und geprüft: „Die Kölschlaune ist gedämpft. Die Tore von 1860 München im Stadion des 1. FC Köln haben die Stimmung in der Loge versaut. Gastgeber Helmut Haumann, Vorstandsvorsitzender der GEW Rheinenergie, schenkt sich einen Weißwein ein, die Mitglieder des Aufsichtsrats der Stadtwerke Troisdorf bleiben beim Gaffel-Kölsch. Der vor wenigen Wochen noch unangefochtene Präsident des FC, Albert Caspers, stößt einige Minuten nach Abpfiff dazu und redet, wie ein Präsident das tun muss. Und Haumann macht nach einigen Minuten Besinnlichkeit gute Miene zum bösen Spiel des Tabellenletzten: „Verlieren verbindet auch.“ Denn eines kann den Männern in der im Stile eines amerikanischen Diners dekorierten Loge niemand nehmen – das Gemeinschaftsgefühl eines Fußballnachmittags mit Höhen und Tiefen. Die Emotionen des Fußballs zur Kundenpflege nutzen – das wünschen sich Logenkunden wie RWE, ADIG oder Tesa. Und die Fußballvereine in Köln, Wolfsburg, Schalke, Hannover, Hamburg, Mönchengladbach, München und Berlin haben aufgerüstet. Ihre Stadien werden regelrecht zu Vorzeigeobjekten des Hospitality-Managements umgebaut. Logen und Business-Seats gehören zum Konzept jeder neuen Arena. Zwischen 25 000 und 250 000 Euro pro Saison kosten die Logen in der Regel mit Platz für 6 bis 20 Gäste. Im Durchschnitt kostet den Gastgeber pro Spiel und Gast ein Platz rund 400 Euro – Verpflegung, Werbung im Stadion und Parkplätze inklusive. Kontaktpflege kostet, aber es scheint sich zu lohnen. Wenn zur Weltmeisterschaft 2006 sämtliche Stadien fertig sind, werden jedes Wochenende tausende Business-Treffen in das Fußballumfeld verlegt. Schon jetzt begegnen sich Spieltag für Spieltag in den Logen Konzernlenker und Mittelständler. Bayer Leverkusen hat bereits Mitte der Neunziger die Zeichen der Zeit erkannt, die BayArena mit VIP-Bereichen ausgestattet und 1997 die Firmenlogen fertig gestellt. Wie überall gibt es auch hier Unterschiede: Toplage sind die zehn Logen in der Südtribüne, mit Blick auf den Fanblock. Hier hat neben Adidas, RWE oder OBI auch die Firma Völkel aus Remscheid eine Loge. Firmeninhaber Peter Völkel war selbst zum ersten Mal vor gut 20 Jahren in England Gast in einer Loge und hat dort Gefallen an der Kundenpflege im Stadion gefunden. „Uns geht es um eine lustige Atmosphäre mit unseren Kunden“, sagt Völkel, der auch den Spaß nicht verliert, wenn in seinem Rücken seine Gäste mit a Bochum-Schal um den Hals jeden Treffer gegen Bayer 04 laut bejubeln.Völkels Loge ist dezent mit Bildern der Produkte der Firma geschmückt, die Hostess bringt das Bier oder den Rheinhessischen Grauburgunder.“
Ballschrank
Deutschland-Belgien 3:0
„unnahbarer Lehmann“ (FAZ); „humorlos, trocken, effektiv – alles wie immer“ (BLZ) – „die schreckliche Macht des Fernsehens“ (SZ): wenn Günter Netzer redet, hören alle, auch Michael Ballack zu, auch wenn Netzer immer wieder dasselbe sagt – Tschechien verliert seit langem wieder einmal – Holland und Frankreich geben sich keine Blöße u.v.m.
Wir heben jetzt nicht ab
Michael Horeni (FAZ 2.4.) hält Rudi Völlers Bescheidenheit für selbstverständlich: “Völler glaubte nach dem zweiten Sieg im zweiten Spiel des EM-Jahres sogar schon den ersten Anflug von Überschwang bremsen zu müssen – obwohl die Nationalelf nach dem 2:1 in Kroatien auch diesmal nicht mehr als ein solides Standardprogramm abgeliefert hatte. „Wir heben jetzt nicht ab“, sagte der Teamchef, „wir sehen nicht alles durch eine rosarote Brille.“ Warum auch? Eckstoß, Freistoß, Freistoß – so lautete das deutsche Standard-Erfolgsrezept, wenn der Ball ruhte. Ansonsten galt des Teamchefs Generaleinschätzung: „Bei der Europameisterschaft müssen wir aber noch einen Zahn zulegen.“ Bis dahin ist es noch eine ganze Weile, und auf den Erfolgserlebnissen von Köln hofft der Teamchef bis Portugal weiter aufbauen zu können. Kevin Kuranyi etwa kehrte mit einem lange vermißten Glücksgefühl und breitem Grinsen zurück in die torlose schwäbische Heimat. Nach exakt 1027 Minuten lieferte er wieder ein zählbares Argument für seine Daseinsberechtigung als Nationalstürmer. „Der Ball ist irgendwie reingegangen. Ich kann auch nicht genau sagen, wie“, sagte Kuranyi als Zeuge über eine Szene, in der ihm der Ball nach einem Eckstoß von Torsten Frings gegen die Hüfte prallte – und von dort ins Tor sprang. Absicht oder nicht? Die Frage wurde an diesem Abend im Zweifel für den Angeklagten entschieden, der nach seinem Torerfolg von einer „Befreiung“ sprach. Für den Teamchef, mit den Leiden eines Stürmers in der Krise bestens vertraut, war die seltene Tatsache, „daß Kevin ein Tor geschossen hat“, daher auch schon mit die wichtigste Erkenntnis eines Länderspieltests, mit dem vorab nur Sorgen und Befürchtungen verknüpft waren. Die andere erfreuliche Botschaft erhielt Völler aus der Defensive. „Wir haben hinten gut gestanden und relativ wenige Chancen zugelassen“, sagte der Teamchef zufrieden über einen Abwehrverbund, den Jens Nowotny, der Leverkusener Nationalspieler aus der Oberliga Nordrhein, zu organisieren hatte.“
Humorlos, trocken, effektiv – alles wie immer
Bernd Müllender (BLZ 2.4.) hat wenig Erfreuliches gesehen und gehört: „Es war ein Match, bei dem man sich später an keinen Spielzug wird erinnern können. Die drei Tore fielen – wieder einmal – nach Standardsituationen. Zum Pausenpfiff verpennten die Belgier zum dritten Mal tölpelhaft einen Eckball und der lange torfreie Kevin Kuranyi hatte mit dem angeschossenen linken Hüftknochen getroffen. Es war das Spiel der Seelenbefriedungen und Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen. Torwart Jens Lehmann etwa: Er bekommt ein Testspiel, um kaum etwas zu tun zu haben – und keine Munition mehr zur Beschwerde. In so einem Spiel, dozierte der Interimskeeper, „hat jeder sein Erfolgserlebnis, auch diejenigen, die in ihrem Verein arbeiten müssen, um zu spielen.“ Das Publikum war erstaunlich genügsam. Ohnehin scheinen immer mehr Menschen ein Länderspiel als National-Event zu begreifen und nicht als pures Fußballmatch; die Verhübschung des ehemaligen Prollsports geht somit zügig voran. Zudem ließ die mäßige Darbietung Zeit für Huldigungsgesänge an den Kölschen FC, die ohnehin mehr Sinn machen, wenn der Dauerloser-Klub gerade nicht auf dem Platz steht. Die deutsche Elf zeigte derweil, was man von ihr kennt: Disziplin, Cleverness, Stärke bei Standardsituationen, Ballgeschiebe als Daseinszweck selbst gegen Sparringspartner wie Belgien, Mut zum Verzicht auf jedes Risiko und gezielter Verzicht auf höhere Spielkultur. Oberste Aufgabe: Emotionsvernichtung, weil das mehr dem Gegner schadet als sich selbst. Der Auftritt: humorlos, trocken, effektiv. Alles wie immer.“
Die schreckliche Macht des Fernsehens
Günter Netzer hat Michael Ballack erneut kritisiert – mit denselben Worten und denselben Sätzen, mit denen er es immer tut. Philipp Selldorf (SZ 2.4.) stöhnt: „Wie ihre Namensvettern in Kaiserslautern haben auch die belgischen „Roten Teufel“ in vergangenen Zeiten schon viel bessere Mannschaften aufs Feld geschickt, und viel mehr als störrische und gelegentlich rabiate Gegenwehr hatte diese Elf nicht zu bieten. Aber dafür darf man die Sieger nicht beschuldigen. „Wir können nicht mehr tun, als klar zu gewinnen“, bemerkte Dietmar Hamann desinteressiert. Kein Spieler wollte behaupten, dass die Belgier übermenschliche Anstrengungen herausgefordert hätten. „Was wir zu tun hatten, ham wir weggemacht“, stellte Verteidiger Christian Wörns angemessen unfeierlich fest. Dank der für den ambitionierten Torwart Jens Lehmann zwar langweiligen, für die übrigen Deutschen aber beruhigenden Reinlichkeit in der Deckung ergab sich dann, wie Hamann ergänzte, „ein recht komfortables Spiel“. Günter Netzer, dessen bohrende Kommentare diesmal eher den Charakter sturen Nörgelns hatten, blieb dennoch nicht unbeachtet. Besonders hatte es der TV-Mann wieder einmal auf Michael Ballack abgesehen, was dazu führte, dass der Münchner Mittelfeldspieler auch an diesem Abend mit schlechter Laune das Stadion verließ, indem er im Sprint an den Reportern vorbeizog. Die schreckliche Macht des Fernsehens zeigte wieder ihre Wirkung – denn Ballack hatte eine ausgesprochen gute Partie gespielt, mit einer erstaunlichen Steigerung während der zweiten Halbzeit, die in seinem 15. Länderspieltor – dem Kopfballtreffer zum 3:0 – eine fast logische Belohnung fand. Dem ehemaligen Leverkusener gewährte das naturgemäß extrem leverkusenkritische Kölner Publikum mehrfach Sonderapplaus, nicht nur, weil sich Ballack mit großer Entschlossenheit in die Arbeit stürzte, sondern weil er auch spielerisch eine Menge Produktives leistete.“
Sympathiepunkte hat der Stellvertreter nicht gewonnen
Roland Zorn (FAZ 2.4.) schaut Jens Lehmann skeptisch aufs Maul: „Vermutlich hätte er gern öfters ins Spiel eingegriffen, doch das würde Jens Lehmann nie zugeben. Lieber spielte der zweite Torwart der deutschen Fußball-Nationalmannschaft, der gegen die Belgier mal wieder als erster Torwart eine Chance bekam, die Rolle des Unnahbaren auch nach dem Schlußpfiff. Da saß der Essener auf dem Podium, angeblich gern bereit, Fragen zu beantworten, und verschanzte sich vor harmloser Neugier. Als zum Beispiel jemand wissen wollte, wie es denn gewesen sei, sich neunzig Minuten nahezu beschäftigungslos die Füße vertreten zu haben, reagierte Lehmann, als hätte er es in seinem einsamen beruflichen Dasein vorzugsweise mit Ignoranten zu tun. „Das ist eine Frage der qualitativen Betrachtungsweise“, stellte er erst einmal fest, um die Distanz zwischen sich und der Ahnungslosigkeit seiner Beobachter groß genug zu markieren, ehe er sich fußballspezifisch äußerte: „Ich kriege jedes Spiel nur ein, zwei Schüsse drauf. Das ist ein gutes Zeichen für gute Qualität, gute Organisation und ein gutes Zusammenspiel in der Defensive.“ Tatsächlich forderten die Belgier bei ihrer deutlichen Niederlage den Deutschen und vor allem Lehmann keine Meisterleistung ab. (…) Sympathiepunkte in der Öffentlichkeit hat der gern mit intellektueller Allüre auftretende Stellvertreter des bulligen Machos Kahn nicht hinzugewonnen. Bei seinen manchmal unpäßlichen Zuspielen auf die Mannschaftskameraden bedachte ihn ein Teil des Kölner Publikums mit Häme und Pfiffen – dergleichen wäre Kahn nicht widerfahren. Nach Dienstende aber gerierte er sich wieder wie ein Einzelgänger, der Deutschland nur noch von fern wahrzunehmen beliebt. Daß er diesmal überall im Mittelpunkt der publizistischen Neugier gestanden habe, will Lehmann gar nicht „mitbekommen“ haben. Dafür sei das Mannschaftshotel in Bergisch Gladbach zu „abgeschieden“ gewesen. Gab es dort etwa kein Fernsehgerät, keine Zeitungen?“
Kollektiv der Verschmähten, Mühseligen und Beladenen
Matti Lieske (taz 2.4.) ächzt: “Während Lehmann mit Arsenal in allen Klubwettbewerben noch dabei und seit ewigen Zeiten ungeschlagen ist, kamen seine Teamkollegen als ein Kollektiv der Verschmähten, Mühseligen und Beladenen nach Köln. Entweder sie sitzen in ihren Vereinen auf der Bank, wie Nowotny, Bobic, Jeremies, Neuville, oder sie dürfen zwar spielen, krebsen aber in unerwünschten Tabellenregionen herum, bekommen das Gehalt gekürzt und müssen sich vorrechnen lassen, wie viele Minuten sie torlos und wie viele Rückennummern sie von der Zehn entfernt sind. In solcher Not kommt ein Länderspiel wie das gegen Belgien gerade recht. Zum Beispiel für Stürmer Kuranyi, der jedes Mal in sein breites Kevin-allein-vorm-Tor-Grinsen ausbrach, wenn er auf seinen Treffer zum 1:0 angesprochen wurde. Da war ihm nach einer Ecke der Ball plötzlich dorthin geprallt, wo andere Leute ihren Bierbauch tragen, und dann ins Tor. Flaute abgehakt, Krise bewältigt. Oder Michael Ballack. Ein Kopfball nach Freistoß zum 3:0, schon sprechen alle wieder vom torgefährlichsten Mittelfeldspieler der Welt und nicht mehr vom überschätzten Offline-Netzer. Oder Dietmar Hamann, der Rückkehrer vom schwächelnden FC Liverpool, der zum „Schlitzohr“ (Völler) avancierte, weil sein 30-m-Freistoß wundersam den Weg ins Tor fand – wenn auch unter freundlicher Mithilfe des Schiedsrichters, der dem belgischen Keeper die Sicht verdeckte. Alles bestens, könnte man meinen, wäre da nicht das Spiel selbst gewesen, das fatal – oder famos, je nach Lesart – an die Auftritte bei der WM 2002 erinnerte. Tore aus dem Nichts bzw. nach Freistößen oder Ecken, Spielkultur Fehlanzeige. Der eifrige Torsten Frings betätigte sich vorzugsweise als Spielverwirrer, Bernd Schneider gab auf der rechten Seite den Ballverschlepper, Hamann spielte eine Art zentralen Schlafwagenschaffner vor der Abwehr und Ballack verstrickte sich in unzählige Zweikämpfe, um dann jeweils einen sauberen Sicherheitspass zu spielen. Vorne gab sich Kuranyi Mühe, seinen Ruf als spielender Mittelstürmer spazieren zu tragen. Der Erkenntnisgewinn, was die Chancen bei der Europameisterschaft betrifft, hielt sich angesichts der spröden Partie gegen einen schwachen Gegner in Grenzen. „Natürlich müssen wir uns bis zur EM noch steigern“, bilanzierte der Teamchef, war aber trotzdem leidlich zufrieden. Über die spielerische Misere tröstete er sich vorerst mit einem Satz hinweg, den er direkt aus dem Sprüchearsenal der WM in Asien gekramt hatte: „Tore aus Standardsituationen zählen genauso wie die anderen Tore.““
Diese Niederlage kann uns helfen
Ronald Reng (BLZ 2.4.) erlebt die erste Niederlage der Tschechen seit 20 Spielen, 1:2 in Irland: “Tschechien, 1976 Europameister und 20 Jahre danach nochmals Finalist gegen Deutschland, aber trotzdem immer nur als Klasse 1b angesehen, findet sich vor der Euro im Juni in Portugal unter den Favoriten wieder. „Sie sind im Moment das Topteam in Europa“, sagt Frankreichs Trainer Jacques Santini. Je länger die Unbesiegbarkeit angedauert hätte, desto größer wäre der Druck geworden, desto stärker wäre die Besessenheit angeschwollen, die Serie zu halten – desto größer wäre die Gefahr geworden, sie könnten verkrampfen, wenn es in einer fulminanten Euro-Vorrundengruppe gegen Deutschland und die Niederlande ernst wird. „Klar, die Spieler leiden, weil ihre Serie hin ist“, sagte Brückner. „Aber für mich ist das schon vorbei. Es war doch eh ungeheuerlich lang. Diese Niederlage kann uns helfen.“ Diese Niederlage gegen das nicht für die Euro qualifizierte Irland wird nichts an der Einschätzung ändern, dass Tschechien ein Klasseteam ist. Sie wirft jedoch die Frage auf, ob ihr Plan B funktioniert. In Zeiten der Unbesiegbarkeit schickte Brückner praktisch immer dieselbe Elf aufs Feld, bei der Probe in Dublin jedoch fehlten mit den verletzten Rosicky, Smicer und Poborsky bis auf Nedved die Kreativen – und was die Vertreter wie Roman Tyce von 1860 München offenbarten, schaffte nicht unbedingt Vertrauen, dass Tschechien für Ausfälle gerüstet ist.“
Christoph Biermann (SZ 2.4.) berichtet das 0:0 zwischen Holland und Frankreich: „Man merkte dem Spielmacher von Werder Bremen an, wie stolz er darauf war, doch noch sein 17. Länderspiel gemacht zu haben. Er erzählte davon, wie gut ihm die drei Tage beim Team gefallen haben. „Auch auf dem Platz habe ich mich gut gefühlt und Spaß gehabt“, sagte er. Doch auch in Rotterdam blieb das Drama, dass man Micoud in seinem Nationalteam mit Zidane vergleichen muss, dem besten Spieler der Welt. Außerdem ist der Bremer auf eine Position spezialisiert, die es im französischen Team nicht gibt. Manchmal schob sich Micoud zwar auf die Position hinter den Spitzen, aber zumeist musste er auf der linken Seite arbeiten. „Zuletzt habe ich dort vor vier Jahren bei Girondins Bordeaux gespielt“, sagte er. Micoud machte das nicht schlecht, leitete auch eine der wenigen Torchancen ein, aber im unfairen Vergleich zu Zidane wurden auch seine Schwächen offenbar. Wo jener über das Feld schweift, um genau die nötige Veränderung des Spiels einzuleiten, spielte Micoud ohne die großen Überraschungsmomente. Man sah, dass es ihm an Schnelligkeit fehlt und sein Spiel fast durchgehend in einem Tempo abläuft. Trotzdem hofft er nun darauf, zumindest als Ergänzungsspieler mit nach Portugal zu kommen. „Santini und ich haben darüber gesprochen, aber ich behalte das Ergebnis für mich“, sagte Micoud. Auch ein anderer Spieler aus der Bundesliga bekam einen wichtigeren Platz in seinem Nationalteam eingeräumt als sonst üblich. Roy Makaay begann als Mittelstürmer, war 68 Minuten lang kaum zu sehen und wurde dann ausgewechselt. Auch sein Spiel passt nicht zu dem seiner Nationalmannschaft. „Wir hatten vorne keinen Anspielpunkt, an dem der Ball mal gehalten wurde“, klagte Außenstürmer Marc Overmars. Makaay war das nicht, wird das nie sein und daher auch weiterhin nur sporadisch zum Einsatz kommen. So blieb am Ende eines trüben Abends das Gefühl, dass ein wenig auch die Bundesliga verloren hatte, weil zwei ihrer Stars auf der ganz großen Bühne doch vor allem ihre Mängel hatten erkennen lassen.“
NZZ-Zusammenfassung des WM-Spieltags in Südamerika
Donnerstag, 1. April 2004
Ballschrank
Vermischtes
die SZ diskutiert den Manipulationsvorwurf an die Helden von Bern: „der Mythos und die Spritze“; „der stille Wunsch, die Grenzen des Machbaren künstlich zu verschieben“; „das Wunder scheint angekommen, wo aller Leistungssport irgendwann landet“ – „Leichtigkeit“ bei der U21 – Dortmund und Amoroso, „der typische Einzelsportler“ (FR), trennen sich u.v.m.
Der stille Wunsch, die Grenzen des Machbaren künstlich zu verschieben
Thomas Kistner (SZ 1.4.) prüft den Dopingvorwurf: „Die Indizien sind rar: Spritzenfunde, die Jahrzehnte lang nur ein dementiertes Gerücht waren, Zeitzeugen, die sich all die Jahre zum Schweigen vergattert sahen, und nun die späte Aussage des Mannschaftsarztes Franz Loogen, man sei damals „auf den Dreh gekommen, den Spielern Vitamin C zu geben“. Nachprüfen lässt sich nicht mehr, was gespritzt worden ist, auch gab es damals noch kein Dopingverbot im Sport. Erste Regeln wurden 1967 eingeführt, nach dem Tod des Briten Tom Simpson bei der Tour de France. Insofern hat es wenig Sinn, sich der Frage sportjuristisch anzunähern. Aufgerollt gehört sie dennoch. Einmal, weil Loogen selbst den Verdacht äußert, dass aus dem häufigen Gebrauch derselben Kanüle jene rätselhafte Gelbsucht-Epidemie herrühren könnte, die Monate nach dem Triumph acht Spieler zur Kur zwang; überdies starben Jahre später zwei Akteure an Leberzirrhose. Zum anderen bemisst sich die Dopingfrage nicht nur an verabreichten Wirkstoffen, sondern an der Mentaliät, in der diese Einnahme erfolgt. So betrachtet, wohnte dem legendären Kameradschaftsgeist von Spiez der stille Wunsch inne, die Grenzen des Machbaren künstlich zu verschieben – „eine Spur mehr“, sagt Loogen, hätten die Spieler gewollt. Zudem entspricht es nicht der ärztlichen Ethik im Sport, gesunde Aktive mit Injektionen zu behandeln – in der Absicht, die Leistung zu verbessern. Es war immer so, dass genommen wurde, was Vorteile versprach – just Torschütze Rahn soll damals die Kameraden mit der Erzählung infiziert haben, dass die Brasilianer zu Medikamenten griffen. Ob man es Doping nennt, ist weniger wichtig – im Raum stehen bleibt ja das schlechte Gewissen, mit dem die Vorgänge damals vertuscht wurden. Und unrühmlich bis heute ist der Umgang des DFB mit der Problematik.“
Das Wunder scheint angekommen, wo aller Leistungssport irgendwann landet
Holger Gertz (SZ 1.4.) erkennt eine Entmythologisierung: „Jetzt sollen sie gedopt gewesen sein, die Helden von Bern, sozusagen falsche Vierundfünfziger. Journalisten des Magazins Report haben Walter Brönimann ausgegraben, den ehemaligen Platzwart des Berner Wankdorfstadions. Der sagt: „Ich habe nach dem Finale beim Putzen leere Ampullen unter Wasserablauf-Gittern gefunden.“ All die Jahre sei er zum Stillschweigen vergattert gewesen, aber jetzt, wo der fünfzigste Jahrestag des großen Spiels heraufdämmert und Reporter wühlen, rutscht dem einen oder anderen was raus. Der frühere Arzt des DFB, Franz Loogen, gibt zu, dass gespritzt wurde. „Da sind wir auf den Dreh gekommen, ein Vitamin C den Spielern zu geben. Und das haben sie auch bekommen. Vitamin C, sonst nichts.“ Ob noch etwas anderes in den Ampullen war, wird sich kaum klären lassen, aber schon die verabreichten Mittelchen sind ja im Spiel gewesen, um die Wettkampf-Härte gesunder Wunderspieler zu erhalten. Also, man spricht über Ampullen, über verunreinigte Spritzen, die die geheimnisvolle Gelbsucht-Dichte der Fußballer nach dem Finale erklären könnten. Das Wunder scheint angekommen, wo aller Leistungssport irgendwann landet – in der medizinischen Abteilung. Was wie ein Sieg des Willens über den Körper aussah, könnte in gewissem Sinn stimuliert gewesen sein. Die ganze Enthüllungs-Geschichte ist übrigens nicht neu, sie hätte schon vor 47 Jahren so erzählt werden können. Damals, 1957, hatte der ungarische Kapitän Ferenc Puskas dem französischen Fachblatt France Football ein Interview gegeben, in dem er über Spritzen und Gelbsucht sprach und die Frage stellte, ob denn bei den Deutschen alles mit rechten Dingen zugegangen sei. Sofort schmolz Puskas in Deutschland zur persona non grata. Beim Endspiel hatte der Reporter Herbert Zimmermann noch voller Ehrfurcht diesen Puskas besungen, den „ungarischen Majorrr“. Nach dem Interview bekam er, einer der weltbesten Spieler, vom DFB Stadionverbot auferlegt, bis er sich schließlich halbwegs entschuldigte. Die Zeiten waren nicht reif für eine Entmythologisierung. Vielleicht sind sie es jetzt, zum Jubiläum.“
Das SZ-Feuilleton (1.4.) schreibt deutsche Geschichte um: „angenommen – nur mal eben angenommen! – es sei doch wahr. Wenn also die Erfinder des Tor-Tor-Tooor!- 3:2-für-Deutschland-Wunders das Gründungsdokument unserer Nachkriegsgeschichte durch Doping statt durch Vitamin-C-Spritzen besudelt und somit auch nachträglich unbrauchbar gemacht hätten . . . dann? Dann kommt uns die conditio sine qua non der BRD abhanden. Eben weil wir unsere Geschichte zum Kitsch geschrumpft haben. Denn darauf hatten wir uns schon vor der filmischen Interpretation der Nationen-Nostalgie geeinigt: „Jedes Land braucht eine Legende“. Und zwar eine, die alles andere als eine Legende sein sollte: nämlich wahr. Mindestens: gefühlte Wahrheit. Und was machen wir jetzt? Ungarn wäre Weltmeister, wir haben wieder 1954, der Tugendkatalog von Sepp Herberger ist vergriffen und der Ball ist eine Scheibe. Außerdem fällt das Wirtschaftswunder aus, denn es bestand aus einem „unerschütterlichen Glauben an sich selbst, an die ewige Wahrheit, die man auch als Land in sich fühlt“. Denkt man sich die ewige Wahrheit weg, so wird auch eine Geschichte danach dermaßen erschüttert, dass es Logik und Zeit gleich mit in den Abgrund zieht. Und auch die D-Mark, den antifaschistischen Schutzwall, das Mädchen Rosemarie sowie den Verlust der Mitte. Zusammen mit der Talare Muff, des Zopfes Alter und des Strandes Pflaster. Alles weg. Großartig. Und wenn man sich jetzt den ganzen grandiosen Erfolgstaumel unter dem Kennzeichen „D“ als zwangsneurotische Folge eines als wahr gefühlten 3:2-Heldentums hinwegdenkt, nur so zum Spaß natürlich, dann verschwindet endlich auch die Depression über den aktuellen Bankrott dieses Legendenlandes. Dann müssen wir endlich nicht mehr zurückblicken und uns fragen, wie und warum wir vom Kurs auf den ewigen Kraftstaat abgekommen sind. Dann könnte man ja mal wieder nach vorne schauen und die Wunder Wunder sein lassen.“
Michael Ashelm (FAZ 1.4.) berichtet Begeisterung über die deutsche U21, 2:2 gegen Georgien: „Wann hat es so etwas zuletzt gegeben, daß sich ein Vertreter der Fußball-Hochkultur Frankreich besonders positiv über deutsche Talente äußert? Alain Giresse, ein Mitstreiter aus der Platini-Ära, heute 51 Jahre alt und neuer Nationaltrainer Georgiens, fand die Darbietungen der deutschen Nachwuchs-Kicker jedenfalls erwähnenswert. „Dieses Land muß sich eigentlich keine Sorgen machen. Es hat mich überrascht, wie viele gut ausgebildete Spieler ich heute gesehen habe“, sagte Giresse in Mannheim nach dem Vergleich seiner Elf mit der „U21″-Auswahl des DFBs. Sicherlich wollte sich der Franzose nicht als unfreundlicher Gast geben und lobte auch deshalb mit freundlicher Miene. Doch auch einige andere an diesem Abend waren sich einig, daß das 2:2 aus deutscher Sicht eher positiv interpretiert werden könne. In Zeiten neuer Fußball-Depression im Lande ein seltener Moment, hoffnungsvolle Worte zu hören. „Die Leistung jedes einzelnen Spielers war herausragend“, lobte der zuständige Trainer Ulli Stielike, obwohl er eigentlich mehr ein Freund des kritischen Urteils ist. Nicht diesmal. „Es macht richtigen Spaß, dieser Mannschaft vorstehen zu dürfen.“ Auch wenn man diese natürlich im eigenen Interesse gefällte Höchstbewertung etwas defensiver einordnet, bleibt noch genug übrig, um Hoffnung aus den Leistungen dieser Mannschaft zu ziehen.“
Leichtigkeit
Daniel Theweleit (SZ 1.4.) ergänzt: „„Das war außerordentlich, jeder Spieler hat hier eine großartige Leistung gezeigt, ich bin hoch zufrieden. Heute hat es richtig Spaß gemacht, dieser Mannschaft an der Linie vorstehen zu dürfen“, sagte Stielike nach einem wirklich tollen Fußballspiel der U 21 gegen die A-Nationalmannschaft Georgiens. Nach einem Spiel, das zeigte, wie schön dieser Sport sein kann, wenn er von jener Schwere befreit wird, die so oft zentnerschwer auf Spielern und Trainern lastet. Man spürte die Leichtigkeit, die auch Völler versucht aus der U 21 in seine Mannschaft zu importieren. Es wurde mutig gedribbelt, riskant gepasst, gelupft, beherzt geschossen, technisch fein kombiniert. Die gängige Meinung, dass Fußballer in Deutschland schlecht ausgebildet werden, musste den Zuschauern im Carl-Benz-Stadion merkwürdig erscheinen. Der für gewöhnlich murrende Stielike jammerte diesmal nicht einmal über Völlers Plünderung seines Kaders. Er scheint mittlerweile alle Akteure ersetzen zu können. Neben Philipp Lahm, Kevin Kuranyi und Andreas Hinkel, die zum Stamm der A-Nationalmannschaft gehören, sagten Benjamin Lauth und Kapitän Hanno Balitsch kurzfristig ab, und selbst vier Auswechslungen zur Halbzeit verursachten keinen Bruch.“
Tsp-Bericht Deutschland-Belgien (3:0)
morgen mehr zu diesem Spiel
NZZ-Bericht Griechenland-Schweiz (1:0)
Amoroso war der typische Einzelsportler
Thomas Kilchenstein (FR 1.4.) bejaht die Kündigung Amorosos: „Es gab manche in Dortmund, die wussten beim Einlaufen, ob Marcio Amoroso heute ein Tor schießen würde oder Luftlöcher. Man sah das irgendwie an seiner Körpersprache, an der Art, wie er sich bewegte. Man wusste es aber immer erst, wenn der Ball schon im Spiel war. Das war das Problem für Matthias Sammer, für Borussia Dortmund: Wenn der Meister keine Lust hatte, war er fürs Team verloren, denn er war keiner, der ackerte und rackerte. Im Gegenteil: Bisweilen stand er so unbeteiligt auf dem Feld herum, dass die Kollegen an sich halten mussten, nicht auszurasten. Einmal ist es Jens Lehmann nicht gelungen, die Contenance zu bewahren. Amoroso war der typische Einzelsportler, brillant, wenn er in Laune war, eine Zumutung fürs Kollektiv, wenn es nicht lief. (…) Nun ist das Tischtuch endgültig zerschnitten. Überraschend kommt die Trennung nicht angesichts der Dreistigkeit, mit der Amoroso sich weigerte, aus Brasilien zurückzukehren. Und natürlich angesichts der höchst angespannten Finanzlage beim börsennotierten Verein. Zum Ende der Saison wird der Club eine Unterdeckung von etwa 58 Millionen Euro ausweisen, die Gesamtverbindlichkeiten belaufen sich auf rund 113 Millionen Euro. Angesichts derlei Zahlen liegt es auf der Hand, sich von teuren und unliebsamen Spielern wie Amoroso zu trennen.“
Ich kenne keinen Fußballjournalisten, der nicht Fan ist
Christoph Biermann (taz 1.4.) schildert den inneren Konflikt eines Fußball-Journalisten: „Hugo Borst gingen neulich die Nerven durch, als Sparta Rotterdam im Halbfinale des holländischen Pokals gegen den FC Utrecht spielte. Sparta ist einer der ältesten und traditionsreichsten Klubs des Landes, stieg aber am Ende der vorletzten Saison bedauerlicherweise nach 80 Jahren aus der ersten Liga ab, weshalb der Aussicht auf ein Pokalendspiel noch größere Bedeutung zukam. Auch für Hugo Borst, einen der bekanntesten und eigenwilligsten Fußballjournalisten Hollands. Im Algemeen Dagbald schreibt der Mann, der seinem Auftreten nach auch in einer Indie-Band mitspielen könnte, eine zumeist witzige Kolumne, in der Fernsehsendung Studio Voetbal spielt er den Part des scharfzüngigen Provokateurs. Und dann ist er eben noch Fan von Sparta Rotterdam, was die Fortsetzung einer langen Familientradition ist: Sein Vater besucht die Spiele im Stadion „Het Kastell“ seit 1938. Im Pokalspiel gegen Utrecht brachte ihn der Schiedsrichter auf, weil er in der ersten Halbzeit zwar einen Elfmeter für Sparta pfiff, dem gegnerischen Torwart aber keine rote Karte zeigte, obwohl der ein sicheres Tor verhindert hatte. Der Keeper blieb, hielt prompt den Elfer, und Borst stürmte in der Pause zu den Kabinen. Man muss an dieser Stelle sagen, dass er an jenem Abend nicht als Berichterstatter im Stadion war, sondern als Fan. Weil ihn aber bei Sparta jeder kennt, gelangte er auch ohne Pressekarte ungehindert zum Referee und beschimpfte ihn als „oplichter“ – als „Schieber“. „Ich wollte ihm helfen, ein besserer Schiedsrichter zu werden“, sagt Borst, „und in der zweiten Halbzeit hat er dann auch fast jeden Freistoß für Sparta gepfiffen“. So direkt möchte man als Fan gerne häufiger helfen, trotzdem reichte es für Sparta nicht, 3:3 stand es nach Verlängerung, im Elfmeterschießen gewann der Erstligist aus Utrecht und zog ins Finale ein. Tags darauf schrieb Hugo Borst seine Zeitungskolumne in eigener Sache, und in der Fernsehsendung kündigte er einige Tage später an, dass ihm so eine Entgleisung nicht mehr passieren werde. Außerdem sprach der Journalist Borst gegen den Fan Borst ein freiwilliges Stadionverbot aus: Anstatt zum nächsten Spiel von Sparta zu gehen, würde er eine Literaturlesung besuchen. Das war eine gerechte Strafe, und sie wurde mit der nötigen Selbstironie ausgesprochen. Denn einerseits wird von Fußballjournalisten die gleiche Verpflichtung zur Objektivität verlangt wie von den Kollegen anderer Ressorts, zugleich sorgt doch erst der emotionale Treibstoff für die nötige Schaffenskraft. Oder, um es anders zu sagen: Ich kenne keinen Fußballjournalisten, der nicht Fan ist oder es zumindest einmal war. Denn warum sonst sollte man sich mit etwas beschäftigen, das aus sich heraus so unwichtig ist?“
Mittwoch, 31. März 2004
Ballschrank
Sonstiges
Lob für ein gesellschaftstheoretisches Fußballbuch (FTD) – „einfach mal eine Klasse tiefer spielen, AS Rom“ (FTD) u.a.
Mit Vergnügen und Interesse liest Daniel Theweleit (FTD 31.3.) ein Fußballbuch, das sein Vater geschrieben hat: „Ein besonders strahlender Planet im Universum Fußball heißt „Väter und Söhne“. Es ist ein Ort voll seltsamer Gefühle, einer, an dem ein ungewöhnlich günstiges Klima herrscht für Nähe zwischen Vätern und Söhnen. Vielleicht ist so ein Ort heute, wo Gefühle auch unter Männern eher zugelassen werden, nicht mehr so wichtig. Wahrscheinlich aber doch. Denn er nährt die Kommunikation über Emotionen, und die ist nach wie vor nicht einfach. Zwar handelt es sich um Fußballgefühle, und die sind meist gespeist von der Zuneigung zu einem bestimmten Klub – aber sie sind real und tief und können Türen öffnen in andere Gefilde. Trotzdem merkwürdig, wenn der eigene Vater die Bühne des öffentlichen Fußball-Diskurses betritt. Denn das ist ja eher mein berufliches Revier. Leser, denen die bisherigen Bücher Klaus Theweleits bekannt sind, mögen überrascht sein, dass plötzlich ein Fußballtext von ihm erscheint. Über ein anderes Thema allerdings hätte er derzeit wohl kein so gelungenes Buch hinbekommen. „Tor zur Welt. Fußball als Realitätsmodell“ knüpft nämlich genau an an einen großen Strang in seinem Werk: Die Verbindung von Denken und Körperlichkeit, ein Grundelement aller poptheoretischen Überlegungen, dient auch hier als Ausgangspunkt. Film und Musik schlittern gegenwärtig ohne klar erkennbaren Geist durch die Geschichte, Politik hat sich dem Zugriff des Individuums entzogen. Was übrig bleibt, um den Geist und die Lebensgefühle dieser Zeit wiederzugeben, ist der Fußball. Zugegeben: Die These ist gewagt – aber in dem Buch sehr plausibel dargestellt und daher ungemein faszinierend. Dem ostpreußischen Flüchtlingskind Klaus Theweleit dient Fußball als erstes Weltsystem, das eine verlässliche Orientierung in der undurchsichtigen Umgebung nach dem Zweiten Weltkrieg bietet. Die Städtenamen der Klubs wachsen zu einem ersten geografischen Bild Deutschlands zusammen, das Errechnen von Tabellen schafft die Grundlage für ein theoretisch-abstraktes Denken, das Spiel mit dem Ball schafft ein Bewusstsein von Körperlichkeit und mündet in zwischenmenschlichen Erfahrungen, die erste soziale Mechanismen lernen lassen. Dieser autobiografische Teil ist so etwas wie das Fundament für jene Ausführungen, die den Fußball hier mit einer theoretischen Dimension versehen. „Wer mitbekommt, was sich im Fußball wann und wie verschiebt, ist über andere Gesellschaftsbereiche osmotisch informiert“, heißt es an einer Stelle. Fußball bietet also die Möglichkeit – in einem überschaubaren Rahmen – Mechanismen, Entwicklungen und Stimmungen zu erkennen, die in der für den Einzelnen kaum noch erfassbaren Komplexität der Welt nicht mehr zu durchschauen sind. In der Fußball-Miniaturwelt aber sehr wohl. Dass diese Erkenntnisse tatsächlich übertragbar sind, wird in dem Text eindrucksvoll vorgeführt und geht weit über politische und wirtschaftliche Dimensionen hinaus.“
Besprochenes Buch:
Klaus Theweleit: Tor zur Welt. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2004, 208 S., 8,90 Euro.
Langsam wird’s ernst für verschuldete italienische Klubs – Thomas Fromm (FTD 31.3.) teilt mit: „Das jüngste italienische Fußballdrama spielte sich nicht im Stadion und auf keinem Rasen ab. Und um wirklichen Fußball ging es schon gar nicht. Aber am Ende war es spannender als viele Spiele: Seit Tagen schon schreiben Italiens Sportgazetten den italienischen Fußball tot – dunkle und schwere Wolken hingen über den Arenen des Landes, selbst Regierungschef Silvio Berlusconi verfiel in große Schwermut. All seine Versuche, Italiens Profifußball mit eleganten Buchhaltungs-Tricks und spitzfindigen Abschreibungs-Pirouetten zu retten, waren am politischen Widerstand seiner Regierungspartner und der EU-Kommission gescheitert. Drohende Pleiten, Schulden beim Finanzamt, keine Spiellizenzen mehr – finito. Das ging so, bis sich Italiens Fußballexperten und Vereinsmanager am Montag zusammensetzten und zum Befreiungsschlag ausholten. „Wir nehmen zur Kenntnis, dass es an politischem Willen fehlt, den verschuldeten Klubs zu helfen“, knurrte Verbandschef Franco Carraro. Dann präsentierte man mögliche Selbsthilfemaßnahmen. Zugegeben, für die Ideen der Funktionäre braucht es Phantasie. Aber: Man redet wieder über Lösungen, und nicht mehr nur über Pleiten. Das Rezept der Funktionäre ist verglichen mit dem, was Berlusconi in den letzten Wochen zur Lösung angeboten hatte, einfach und bodenständig. Und so sieht das aus: A-Liga-Klubs, die wegen ihrer hohen Schulden keine Spiellizenz bekommen, sollen einfach Konkurs anmelden und in der B-Liga weiterspielen dürfen. Für die Vereine wäre das ein Segen: Als vor anderthalb Jahren der AC Florenz bankrott ging, wurde der noch in die vierte Liga verbannt.“
if-Leser Gregor Anselmann hält nicht viel von der wahren Tabelle, ein Format von blutgraetsche.de, das die Tabelle von Schiedsrichterfehlern bereinigt: „Fehlentscheidungen der Schiedsrichter bestimmen regelmäßig über Wohl und Wehe eines Vereins, ohne dass daraus Konsequenzen gezogen würden. Abgesehen vom gerade vergangene Spieltag sind in dieser Saison jedes Wochenende die Wogen hoch geschlagen angesichts spielentscheidender Fehler der Schiris. Nichtsdestotrotz ist die geballte Empörung jedes Mal wieder folgenlos verpufft. Die Statistik von blutgraetsche.de über Schiedsrichterfehlenscheidungen legt den Schluss nahe, dass die Schiedsrichter die Ergebnisse so stark beeinflussen wie es ansonsten nur die Topstürmer Ailton und Makaay vermögen: in mehr als jeder zweiten Partie gibt eine Fehlentscheidung des Unparteiische dem Spiel eine entscheidende Wendung. In den bislang bestrittenen 225 Partien kam es 125 mal zu spielentscheidenden Fehlern! Vor ein paar Jahren schon untersuchte eine Sportuni die empirische Erfolgswahrscheinlichkeit einer Abseitsentscheidung. Das Ergebnis nach der Auswertung von einigen tausend Abseitsentscheidungen: die Schiedsrichter hätten genauso gut würfeln können, die Wahrscheinlichkeit einer korrekten Entscheidung lag bei 50%. Selbst wenn man davon absieht, dass ein Schiedsrichterfehler nicht nur ein Spiel entscheiden kann, sondern darüber hinaus bisweilen auch die Weichen für die zukünftigen Spiele stellt und eine Mannschaft dauerhaft auf die Sieger- oder Verliererstrasse einbiegen lässt, selbst wenn man also nur die unmittelbaren Auswirkungen der Fehlentscheidungen betrachtet, sind die Auswirkungen gewaltig. Der „wahren Tabelle“, also der um die verzerrten Ergebnisse bereinigten Tabelle zufolge hätte die Eintracht 31 Punkte auf ihrem Konto statt nur 26, sie wäre also gerade mal 2 Punkte von UI-Cup-Rängen entfernt. Freiburg hingegen stünde mit 23 statt 30 Punkten auf einem Abstiegsplatz. Bochum würde sich für die CL qualifizieren und wäre den Bayern mit nur einem Punkt Rückstand dicht auf den Fersen. Und die Bremer wären den Bayern nicht um satte elf Punkte enteilt, sondern lägen mit gerade einmal 6 Punkten noch in Reichweite. Abstieg oder UI-Cup, UI-Cup oder CL, Meister oder nicht, darüber entscheiden die Fehler der Schiedsrichter. Und das muss auch so bleiben, schließlich würden elektronische Entscheidungshilfen bekanntlich das Wesen des Spiels verfälschen.“
Ballschrank
Kollektiv der Fußballsachlichkeit
„die graue Maus unter den großen Fußballnationen Westeuropas gegen die graue Maus unter den kleinen“ (FAZ) – „wer soll bloß deutsche Tore schießen?“ (FAZ) – FR-Interview mit Jens Nowotny, Nationalspieler der Oberliga Nordrhein – Belgien, „Kollektiv der Fußballsachlichkeit“ (FAZ) – „Berti Vogts kann einfach nicht kommunizieren“ (The Scotsman) u.v.m. (mehr …)
Dienstag, 30. März 2004
Ballschrank
Bundesliga
„glamouröses Gipfeltreffen in Stuttgart“ (FAZ) – Kurt Jara (1. FC Kaiserslautern) kehrt für einen Tag zurück in seine Heimat nach Hamburg, „es menschelte bei dieser Begegnung“ (SZ): „Trainer sind nicht die entscheidenden Faktoren für den Erfolg einer Mannschaft“ (FAS) – „wie die Bayern-Bosse Karl-Heinz Rummenigge und Uli Hoeneß die Trennung von Trainer Ottmar Hitzfeld vorbereiten“ (FTD) u.v.m.
VfB Stuttgart – Werder Bremen 4:4
Damit Deutschland wieder eine Zukunft hat
Philipp Selldorf (SZ 30.3.) kann’s sich nicht verkneifen: „Da weder die Qualität des Spiels und schon gar nicht die Moralität eines durch Kunst und Schönheit verdienten Erfolgs das entscheidende Kriterium bei der Bestimmung des Erstplatzierten ist, sondern allein die erreichte Punktezahl, kann folgender Albtraum weiterhin Wirklichkeit werden: Meister wird der FC Bayern. Diese Schreckensvision wirft die Frage auf: Darf das sein? Und: Kann man nicht ein Gesetz dagegen erlassen? Muss nicht eine dem Wohl des deutschen Volkes verpflichtete Bundesregierung die Bürger vor diesem FC Bayern schützen? Im Kabinett hat sich dazu bereits eine Initiative gebildet. Verteidigungsminister Peter Struck ist ihr vorangetreten. Unaufgefordert verkündete er auf einer Pressekonferenz zu Themen der Bundeswehr, ihm sei jeder Meister in der Bundesliga recht, solange es nicht der FC Bayern sei. Ein mutiger, aber gewagter Vorstoß, welcher der Regierung Schröder womöglich mehr Wähler abspenstig macht als sämtliche Praxisgebühren und Rentenkürzungen. Denn die Anhängerschaft des FC Bayern ist mächtig, und würde der Verein sich zur Partei ernennen, dann wäre nicht die Fünf-, sondern die Fünfzigprozenthürde sein Ziel. (…) Aber vielleicht ist unser Land jetzt endlich soweit. Vielleicht stehen nun auch andere auf, nachdem Struck sich erhoben hat, vielleicht lassen morgen schon der Rheinländer Westerwelle und übermorgen der Sauerländer Merz ihr Gewissen sprechen. Für Frieden und Fortschritt. Damit Deutschland wieder eine Zukunft hat.“
Martin Hägele (SZ 30.3.) ist von beiden Teams begeistert: „Wohl kein anderes Team hätte die Rückschläge verdaut, die Schaafs Ensemble vom brasilianischen Hünen Bordon oder durch den Schweizer Streller hinnehmen musste. Höchstens der VfB Stuttgart selbst, der sich nach dem vermeintlichen K.o durch Klasnic und Ailton kurz vor der Pause aufrappelte und noch gewinnen wollte. Meisterlich selbstbewusst war auch Werders Reaktion auf das Stuttgarter 4:3. Noch als die Galerie das Führungstor bejubelte, kaum 60 Sekunden nach dem Jubel um Yakins genialen Pass und Strellers Solo, lag die Kugel wieder im anderen Tornetz. Dass Micoud die Vorlage vom VfB-Kapitän Soldo unfreiwillig per Kopf geliefert bekam, spielt dabei so wenig eine Rolle wie die Tatsache, dass der von Torwart Hildebrand abgewehrte Ball dem wie immer lauernden Ailton vor den Fuß flog. Die Bremer zogen sich auch nicht zurück, als Referee Fandel ihr Team mit der Gelb-Roten Karte für Schulz dezimiert hatte. Fandel übrigens bat später um Nachsicht für sich und seine Kollegen. „Es sieht nach zwei Fehlentscheidungen aus“, sagte der Fifa-Referee, als ihm in Zeitlupe vorgeführt wurde, wie der Bremer Torwart Reinke einen Lupfer Kuranyis fast einen Meter außerhalb des Strafraums mit der Hand abgewehrt und mitten in die stärkste Phase des VfB der Kroate Klasnic seinen Konter gesetzt hatte – aus Abseitsposition. Diese zweimal fünfzig, sechzig oder achtzig Zentimeter ergaben nicht nur im Kopf von Trainer Magath einen Platzverweis für den Werder-Keeper und ein Gegentor weniger. Andererseits addierte sich aus der festen Moral, mit der die Schwaben diese Benachteiligungen wegsteckten, ein mentales Plus für die letzten acht Aufgaben der Saison. Das Remis gereiche dem FC Bayern zwar momentan zum psychologischen Vorteil, fand Magath, aber trotz der fünf Punkte Rückstand sei er sicher, noch Platz zwei und die direkte Qualifikation für die Champions League zu erreichen. Dass sich die großen Bayern und der Emporkömmling VfB aufs selbe Saisonziel konzentrieren, ist an sich schon ein Kompliment an das Rote Haus. Magath will diesen Wettlauf unter den finanziell und strukturell ungleichen Bedingungen nun unbedingt gewinnen.“
Hier sind die zwei besten Klubs aufeinandergetroffen
Michael Ashelm (FAZ 30.3.) fügt hinzu: „Nur Felix Magath spielte an diesem berauschenden Fußballabend nicht so recht mit. Anstatt wie die anderen den besonderen Moment der Saison gemeinsam hochleben zu lassen, blickte der Trainer des VfB Stuttgart süßsäuerlich durch die Gegend. Während um ihn herum alle Einzeleinheiten des fußballerischen Feuerwerks noch einmal aufgeregt rekapituliert wurden, haderte Magath mit Fehlentscheidungen des Schiedsrichters, verlorenen Punkten und einer verpaßten Chance – also den üblichen Dingen eines ganz normalen Spieltags. Doch normal war an diesem Sonntag in Stuttgart gar nichts. Der Meisterschaftsaspirant Werder Bremen lieferte sich mit dem drittplazierten VfB ein Duell, von dem noch lange die Rede sein wird. Und das dann selbst den nicht gerade für seine emotionalen Gefühlsausbrüche bekannten Bremer Trainer Thomas Schaaf in positive Schwingungen versetzte. Immer wieder kamen dem Bremer Erfolgscoach „begeisternd“ oder „phantastisch“ über die Lippen. Wie Schaaf reagierten auch die Hauptdarsteller auf dem Platz, die den ligainternen Vergleich zwischen der abwehrstärksten Mannschaft und dem offensivsten Ensemble des deutschen Fußballs zu einer spannungsgeladenen, nervenzerreißenden Angelegenheit machten. Die Begegnung schwankte hin und her, lebte von dem Einsatzwillen der Spieler und hatte ihre Helden. Einer davon Marcelo Bordon, der Stuttgarter Innenverteidiger mit dem knallharten Schuß, dem gleich drei Treffer gelangen. Von seinem nicht weniger brillanten brasilianischen Landsmann Ailton auf der anderen Seite, der in Stuttgart seine Bundesligatreffer 23 und 24 erzielte, wurde Bordon schließlich gefragt, was er denn vor dem Spiel gegessen habe. „Ich habe geantwortet: Ich habe gebetet.“ Und man konnte ja wirklich den Eindruck haben, daß eine höhere Macht im Interesse der Zuschauer diese Partie verzauberte. Aber die neunzig Minuten von Stuttgart würden auch gut als Bewerbungsvideo für den asiatischen Markt taugen, um der Bundesliga in Sachen Fernsehvermarktung den einen oder anderen Deal in Fernost zu ermöglichen. (…) Während die Saison durch die sportlichen und geschäftlichen Schwankungen von Großklubs wie Bayern München, Borussia Dortmund, Hertha BSC Berlin oder auch Schalke 04 immer mehr zu einer drögen, mittelmäßigen Angelegenheit wird und deutsche Klubs in den entscheidenden Runden des Europapokals außerdem sowieso nicht mehr zu finden sind, fällt ein Fußballabend wie der in Stuttgart besonders auf und ins Gewicht. „Hier sind die zwei besten Klubs aufeinandergetroffen, das sagt doch alles“, so der Bremer Mittelfeldmann Paul Stalteri. Und nicht nur, daß Werder und der VfB in dieser Saison fast alleine für die schönen Momente in der Bundesliga sorgen. Beim 4:4 wurde wieder einmal deutlich, daß der deutsche Spitzenfußball weiterhin vor allem von den Kickern aus dem Ausland vorangebracht wird.“
Knallgöweresk
Tobias Schächter (taz 30.3.) fühlt sich an alte Zeiten erinnert: „Karl Allgöwer war ein Bruddler. Er bruddelte gegen die Stationierung der Pershing II-Raketen, gegen Umweltzerstörung, Apartheid – und natürlich gegen die CDU. Fast alle Schwaben, die in den 80er-Jahren zum VfB ins Neckarstadion pilgerten, wählten Kohl, aber dennoch liebten sie Karl den Linken, der so oft auf seinen Präsidenten, den Finanzminister im tiefschwarzen Ländle, pfiff. Der Wasen-Karle war ein Linker mit einem rechten Hammer. Wenn es Freistoß gab, riefen alle: „Kaaarle, Kaaarle, Kaaarle.“ Und Karle zog ab. Aus 20, 30 oder 40 Metern, scheißegal, er zog ab – und die Torhüter unterschrieben schon mal den Krankenschein, für den Fall, dass das vom schmächtigen Quergeist abgefeuerte Geschoss auf ihre Fäuste knallen sollte. Als am Sonntag Schiedsrichter Herbert Fandel in der allerletzten Minute dieses turbulenten 4:4 zwischen Stuttgart und Bremen auf Freistoß entschied, hatte Marcelo Bordon, der elefantenohrige Brasilianer, es längst geschafft: Er war legitimer Nachfolger des Knallgöwer: „Marcelo ohoh, Marcelo ohohohoh“, schrien die Schwaben. Und Bordon lief an, schoss, Bremens Torwart Reinke hielt tatsächlich die Fäuste hin, wehrte den Ball ab – und schüttelte seine mitgenommenen Pranken. Dann pfiff Fandel ab und 48.000 feierten das achttorige Spektakel, als hätten sie so etwas noch nie gesehen. Die Bremer Fans feierten sogar vorzeitig die Meisterschaft, von der Trainer Schaaf freilich noch immer nichts wissen will. Für die Fans der Rot-Weißen aber gab es nur einen Hohepriester dieser heiligen Messe: Bordon. „Fußball isch unglaublich“, sagte der in lustigem Schwabenbrasilianisch. Drei Tore hatte der Haudrauf gemacht – eins per Kopf und zwei knallgöweresk per Freistoß.“
FAS-Interview mit Klaus Allofs über die Medienpolitik Werders
FAS: Überdenken Sie Ihre offene Medienpolitik? Wird sie restriktiver?
KA: Nein. Wir müssen uns immer mal wieder selbst überprüfen und auch das, was aus unseren Aussagen gemacht wird. Mancher bewertet unsere Aussagen eben anders, als sie gemeint waren. Unsaubere Formulierungen werden gesucht. Aber das ändert nichts an unserer Vorgehensweise.
FAS: Falls Sie Meister oder Zweiter würden und in der Champions League spielten, wäre das mediale Interesse noch viel größer. Kann ein kleiner Verein wie Werder das überhaupt bewältigen?
KA: Wir wollen keine Abschottung. Wir wollen den ständigen Austausch, wir kommen so gut wie allen Interviewwünschen nach. Wir denken, das gehört zur Arbeit eines modernen Vereins dazu. Wir müssen einfach abwarten, ob es in Zukunft zu bewältigen sein wird. Wir wissen nicht, was in der Champions League auf uns zukommt.
FAS: Werder auf dem Weg zum anonymen Großklub?
KA: Groß muß nicht unsympathisch sein. Wir wollen sein, wie wir bisher waren. Grundsätzlich sind wir offen, wir bieten den Journalisten ja eine Dienstleistung an. Und wir haben doch auch ein Anliegen: Wenn wir das, was wir denken, auch rüberbringen können, sind wir zufrieden. Wir sind in Zeiten des Mißerfolges offen gewesen und wollen es auch jetzt sein. Ich sehe es nicht als Weiterentwicklung oder Schritt zur Professionalisierung an, wenn man weniger Pressearbeit macht und hier restriktiver wird.
Hamburger SV- 1. FC Kaiserslautern 3:2
Du bist doch nur dabei, weil es keine besseren gibt
Frank Heike (FAZ 30.3.) beglückwünscht Christian Rahn, bester Spieler des Spiels: „Es ist Segen und Fluch zugleich für Christian Rahn, daß er besser als die meisten seiner deutschen Kollegen in der Bundesliga mit dem linken Fuß schießen kann. Segen, weil er nach guten Leistungen immer wieder die Sehnsucht der Deutschen nach einem spielstarken Mann auf der linken Außenbahn weckt. Fluch, weil Rahn dann nach jeder Einladung in die Nationalmannschaft zu hören bekommt: „Du bist doch nur dabei, weil es keine besseren gibt.“ Es ist ja auch tatsächlich so, daß das nationale Angebot auf links überschaubar bleibt und Teamchef Rudi Völler vor allem jungen und ganz jungen Profis eine Chance gibt, die kaum eine Halbserie lang auf dieser Position überzeugt haben – der ehemalige Wolfsburger Tobias Rau und der Stuttgarter Philipp Lahm sind Beispiele dafür. Christian Rahn ist 24 Jahre alt, vier Länderspiele hat der Hamburger bestritten, und auch für die Testpartie am Mittwoch in Köln gegen Belgien steht der ehemalige Akteur des FC St. Pauli im Aufgebot der ersten deutschen Auswahl. Wahrscheinlich wird Lahm spielen, doch Rahn warb am Sonntag abend so nachhaltig für sich, daß er zumindest auf einen kurzen Einsatz hofft: Er schoß zwei Tore und bereitete den Treffer durch Romeo wunderbar vor. Rahns Schußtechnik ist außerordentlich gut; vor allem den kräftigen Spannstoß aus spitzem Winkel beherrscht er fast perfekt – beide Tore von ihm kamen so zustande. (…) Rahn und der HSV, das war bisher eine schwierige Beziehung. Im Sommer 2002 zwei Jahren vom gerade abgestiegenen Ortsrivalen geholt, sollte Rahn die Nachfolge von Bernd Hollerbach antreten. Doch daran haben sich schon ganz andere die Zähne ausgebissen. Als Hollerbach sich verletzte und die ganze Vorrunde ausfiel, war Rahn unter dem ehemaligen Trainer Jara immer noch nicht erste Wahl. Rahn paßte nicht in Jaras Sicherheitskonzept, weil er nach dessen Meinung nicht verteidigen kann. Erst der Wechsel von Jara zu Klaus Toppmöller ebnete ihm den Weg beim HSV.“
Es menschelte bei dieser Begegnung
Jörg Marwedel (SZ 30.3.) beobachtet Kurt Jara, zurück in Hamburg: „Das Transparent in der HSV-Fankurve mit dem freundlichen Gruß „Willkommen Zuhause“ war längst eingerollt, der verdiente Sieg analysiert und der Mannschaftsbus der Gäste schon in Position gebracht für die nächtliche Rückfahrt in die Pfalz. Kurt Jara aber stand noch immer im Kreise alter Bekannter und gab Auskunft über sein Seelenleben. „Froh“ sei er, „dass erst einmal alles vorbei ist“, sagte der Trainer des 1. FC Kaiserslautern und lächelte, denn das Wiedersehen hatte ihn sehr beschäftigt. Jara hatte sich im Hotel extra ein Zimmer mit Blick auf die Alster reservieren lassen, das Wahrzeichen der von ihm so geschätzten Stadt. Und er hatte gegrübelt, wie der Empfang wohl werde bei der Rückkehr an jenen Arbeitsplatz, den er im vergangenen Oktober ausgerechnet nach einem 0:4 in Kaiserslautern hatte räumen müssen. „Mulmig und gut“ zugleich sei ihm dabei zumute gewesen, berichtete er. Abgesehen davon, dass es zu den Eigentümlichkeiten des Profisports gehört, dass ein Tiroler, der in Kaiserslautern lebt, sich in Hamburg genauso zu Hause fühlt wie zuvor in Gelsenkirchen, Zürich oder Valencia, lässt sich also feststellen: Es menschelte bei dieser Begegnung. Und es wurde dann auch ein Abend der Nettigkeiten. Fast trat dabei in den Hintergrund, dass Jara „einigen Herren“ in der HSV-Führung noch immer gram ist wegen der Art seiner Entlassung. Auch dass sein neues Team nun wieder im Abstiegsstrudel steckt, schien ihm nicht wirklich die Laune zu verderben. Oder dass Miroslav Klose wegen einer Innenbanddehnung vom Platz musste, nachdem der Nationalstürmer per Kopfball erstmals nach 964 Minuten ins Tor getroffen und gezeigt hatte, weshalb man ihn laut Jara bis zu seinem Wechsel nach Bremen „so dringend braucht wie das tägliche Brot“. Immerhin war die Blessur so schwer, dass Klose am Montag seine Teilnahme am Länderspiel gegen Belgien in Köln absagen musste. Und selbst zwischen Jara und seinem Nachfolger Klaus Toppmöller, dem er ja über die Medien signalisiert hatte, niemals sein Freund zu werden, bahnte sich so etwas wie kollegiale Eintracht an.“
Frank Heike (FAS 28.3.) resümiert die Trainerwechsel Hamburgs und Kaiserslauterns ein halbes Jahr später: „Trainer sind nicht die entscheidenden Faktoren für den Erfolg einer Mannschaft. Die Zwischenbilanzen von Kurt Jara, dem Lauterer Spielbetriebsleiter, und Klaus Toppmöller, Regisseur des HSV-Fußballschauspiels, entlarven die Hire-and-fire-Mentalität als unangebrachte Grundlage für die Personalpolitik. Seitdem der Österreicher Jara die Pfälzer betreut, hat das Team zwar ein paar Fortschritte im Kampf gegen den Abstieg gemacht. Doch die spielerischen Leistungen, die zu vier 1:0-Siegen, zwei 0:1-Niederlagen und zum jüngsten 2:2 gegen den VfL Bochum führten, lassen sich in einem Satz zusammenfassen: Es hat sich nicht viel geändert in Kaiserslautern seit der Entlassung des Belgiers Erik Gerets, nur das Glück schaut jetzt häufiger am Betzenberg vorbei. Auch Toppmöllers Verpflichtung in Hamburg zahlte sich für den Verein durch eine leicht verbesserte Erfolgsquote aus. Doch der Aufschwung hat noch längst nicht die gewünschten Dimensionen erreicht. Der Trainer des Jahres 2001 kämpft seit Oktober mit der gleichen Vergeblichkeit gegen die Launenhaftigkeit seiner Spieler an wie sein Vorgänger – Kurt Jara. „Natürlich sind die Einflußmöglichkeiten begrenzt, wenn man mitten in der Saison ein Team übernimmt“, gibt Jara offen zu. „Toppmöller konnte wenigstens noch auf dem Transfermarkt tätig werden, um ein paar seiner Vorstellungen umzusetzen. Ich kam erst nach der Winterpause nach Kaiserslautern.“ Der Österreicher hat die Aufgabe dennoch übernommen. „Sonst hätte es ein anderer gemacht.“ Was nicht heißen soll, daß der frühere österreichische Nationalspieler mit Bundesligaerfahrung jeden Job angenommen hätte. In Lautern schien ihm das Risiko kalkulierbar, seinen guten Ruf zu verlieren: „Das Stadion, das Trainingsgelände, die Tradition, die Qualität der Mannschaft, die Tatsache, daß auch der Abzug von drei Punkten zum schlechten Tabellenplatz beitrug, waren alles Argumente, den Job zu übernehmen. Zudem ist das Ziel nicht utopisch: Wir müssen nur die Klasse halten.“ Jara hat sich eine gewisse Distanz zu sich und seinem Beruf erarbeitet, aber natürlich hält er sich nicht für überflüssig: „Man kann schon ein paar Dinge ganz schnell bewirken.“ Dazu gehörten Disziplin und die psychische Einstellung der Spieler: „80 Prozent der Spiele werden im Kopf entschieden“, sagt der Österreicher. Er rede seine Profis stark, Schwächen spreche er so gut wie nie an. Wenn er spricht, wählt Jara kurze, prägnante Sätze: „Als Spieler hatte ich doch auch keine Lust, stundenlang dem Trainer zuzuhören.“ Wenn sich ein längerer Dialog mit einem Profi entspinnt, führt er ihn natürlich gerne. Das erste Aufeinandertreffen mit der Mannschaft sei schon entscheidend für das Verhältnis. „Dinge später durchsetzen geht nicht mehr. Du mußt Pflöcke einschlagen.“ Sein Kollege Toppmöller hatte es in Hamburg zunächst schwerer. Sein Vorgänger Jara war ausgesprochen beliebt gewesen bei der Mannschaft: „So etwas hatte ich zuvor noch nie erlebt“, erzählte Toppmöller. „Aber nach ein paar Tagen hatte ich sie durch gutes Training überzeugt.““
Weiteres
Heinz-Wilhelm Bertram (FTD 30.3.) analysiert die „Demontage“ Ottmar Hitzfelds: „Die sportliche Situation ist, gemessen an den Ansprüchen des Klubs, prekär: Ausgeschieden aus Champions League und DFB-Pokal, in der Meisterschaftsrunde kaum noch mit Chancen. Das ist eine Bilanz, die traditionell jedem Trainer des Marktführers unter die Nase gerieben bekommt. Dass dies für Ottmar Hitzfeld aber in besonderem Maße gilt, könnte mit einem internen Konflikt zusammenhängen, der die Beziehung zwischen dem Vorstand und dem leitenden Angestellten schon seit längerem belastet. Rummenigge, heißt es in Klubkreisen, soll den argentinischen Abwehrspieler Martin Demichelis über Hitzfelds Kopf hinweg verpflichtet und den Trainer vor vollendete Tatsachen gestellt haben. Vorausgesetzt, die Geschichte ist so abgelaufen, so wäre das eine interne Demontage Hitzfelds bereits vor Saisonbeginn gewesen. Und sie hätte eine besonders perfide Note, denn: Hitzfeld hatte nach dem Gewinn der Champions League 2001 Verstärkungen für die Abwehr gefordert. Die wurden ihm zwar zugesagt, doch ist es nie zu den Verpflichtungen seiner Wunschkandidaten wie dem Berliner Arne Friedrich gekommen. Und dann das. Und was sagt der andere Bayernboss, Manager Uli Hoeneß jetzt? „Wir müssen nun erst einmal Zweiter werden, um sicher für die kommende Champions-League-Runde qualifiziert zu sein. Dann sehen wir weiter.“ Er meint die Trainerfrage. Der Manager gilt als der große, starke Antipode Rummenigges. Als der Mann, der „zu 100 Prozent“ („Abendzeitung“) treu zu Hitzfeld steht. Lässt es Rummenigge tatsächlich auf eine Konfrontation mit dem Manager ankommen? Es steht anderes zu vermuten. Die im Taktieren gewieften Führungskräfte des FC Bayern, Rummenigge und Hoeneß, dürften längst übereingekommen sein – und Hitzfelds Dienstende gemeinsam beschlossen haben. Damit bleiben sie wieder einmal ihrem wichtigsten Credo „Niemand wird jemals einen Keil zwischen uns treiben können!“ treu. Um Hitzfeld, den verdienten, überaus erfolgreichen und international angesehenen Trainer, feuern zu können, muss man sensibel vorgehen. Das dramatische Muster mit einem Bösewicht, Rummenigge, und einem Tugendhaften, Hoeneß, bietet sich an. Die Rollenverteilung steht fest, nur der Zeitpunkt der Trennung ist offen. (…) Beckenbauer, Rummenigge, Hoeneß: Dem mächtigen Dreigestirn ist nicht verborgen geblieben, dass Magath gut zu Bayern München passen würde. Als Neuling auf der ganz großen Fußballbühne würde er etwa 1 Mio. Euro Gehalt weniger kosten als Hitzfeld (zirka 3,5 Mio. Euro). Magath hat nachgewiesen, dass er Beckenbauers innigsten Wunsch erfüllen kann, Talente auf höchstem Niveau wettbewerbsfähig zu machen. Er hat sich mit einem der schwierigsten Charaktere der Bundesliga, mit Krassimir Balakow, bestens arrangiert. Magath kann im Notfall den gefürchteten Hardliner spielen und bietet abseits des Rasens Umgangsformen, wie sie die Bayern-Bosse schätzen. Deutet Magath Zustimmung an, muss Hitzfeld wohl schon zum Saisonende seinen Platz räumen. Der Bayern-Trainer weiß, dass er nichts mehr zu verlieren hat. Deshalb kann er so aufgeräumt und überzogen selbstbewusst auftreten wie in den letzten Tagen.“
Ballschrank
Auslandsfußball
Arsenal und Manchester United spielen 1:1, „Tempo, Technik, Tacklings, Kombinationen, Intensität von der ersten bis zur letzten Sekunde“ (FAZ) – „die Idylle von Chievo ist verflogen“ (NZZ) – „eine Ansammlung Unterprivilegierter sind Italiens Ultras nicht mehr“ (Tsp) – FC Volendam, „het andere Oranje“ (NZZ) – Real Murcia, „Deportivo des Südens“ (NZZ) – „hire and fire“ (NZZ), Austria Wien feuert Joachim Löw u.v.m.
Tempo, Technik, Tacklings, Kombinationen, Intensität von der ersten bis zur letzten Sekunde
Christian Eichler (FAZ 30.3.) berichtet das 1:1 zwischen Arsenal und Manchester United: „Der „Sonntagsschuß“ ist ein wenig aus der Mode gekommen in der Fußballbildsprache. An Thierry Henry kann das nicht liegen. Wenn es einen perfekten Sonntagsschuß gibt, dann hat ihn der derzeit weltbeste Stürmer am Sonntag nachmittag vorgeführt. Henry, rund 25 Meter vom Tor entfernt, traf mit einer perfekten Fußhaltung, das Bein locker aus der Hüfte schwingend. Die Kunststoffkugel wurde so schnell und nahm eine solch scharfe Flugkurve an, daß Roy Carroll, der Torwart von Manchester United, nicht mal den Arm zu Abwehr hochbekam. „Das war kein Schuß, das war eine Rakete“, schwärmte selbst der sonst vorsichtig formulierende Trainer Arsène Wenger. Der Schütze sah gar höhere Mächte im Spiel: „Ich traf ihn leicht nach rechts versetzt mit dem Spann, meist geht so was rüber, aber diesmal muß jemand da oben ihn ins Tor gesteuert haben.“ Flugüberwachung nach Arsenal-Art im Luftraum über Highbury. Wieder ein Traumtor, wieder ein neuer Rekord – 30 Spiele ungeschlagen von Beginn einer Saison, das hat in mehr als hundert Jahren in der höchsten englischen Liga noch keiner geschafft – und doch war Arsenal nicht nach Feiern zumute. „Sie sind platt, enttäuscht“, sagte Wenger über seine Spieler und nahm es positiv: „Und das nach diesem Rekord, das zeigt, wie ehrgeizig dieses Team noch ist.“ Vier Minuten vor dem Ende eines großartigen Fußballspiels, als Arsenals Kräfte vier Tage nach dem Champions-League-Viertelfinale beim FC Chelsea schwanden, kam Manchester zum verdienten 1:1 durch den Franzosen Louis Saha, der eine flache Hereingabe unerreichbar für Torwart Jens Lehmann verwertete. „Wir haben gezeigt, daß wir noch nicht tot sind“, sagte United-Trainer Alex Ferguson und redete vom „wiedergewonnenen Stolz“. (…) Die letzte Partie der beiden großen Rivalen im Oktober 2003 hatte den unguten Beinamen „Schlacht von Old Trafford“ erhalten, weil sie vor bösartigen Auseinandersetzungen fast aus dem Ruder lief – Tiefpunkt einer Historie von Top-Duellen, in denen Aggression, Adrenalin, archaische Behauptungsinstinkte das Spielerische immer öfter verdrängt hatten. Diesmal aber blieb die Fortsetzung aus, im Gegenteil, der Vergleich der beiden besten englischen Teams der 1992 begründeten Premier League wurde eine Art Mustermesse all dessen, was diese Liga so begeisternd macht: Tempo, Technik, Tacklings, Kombinationen, Intensität von der ersten bis zur letzten Sekunde – ein Spiel mit Herzblut, nicht mit bösem Blut.“
Schrotflinten-Hochzeit
Raphael Honigstein (Tsp 30.3.) wundert sich darüber, dass sich die Öffentlichkeit auf Sven-Göran Eriksson konzentriert: „Der Erste gegen den Dritten im immer noch aufregendsten Duell der Saison: FC Arsenal gegen Manchester United. Ein begeisterndes Spiel ohne Geschwindigkeitsbegrenzung, und von brachialer Intensität. Es gibt viel zu erzählen von diesen wunderbaren 90 Minuten in Highbury, doch das alles beherrschende Thema nach der Partie war der unglaubliche Rekord, der an jenem trüben, ungemütlichen Londoner Märztag aufgestellt wurde. Arsenals geschichtsträchtige Serie von 30 ungeschlagenen Spielen hintereinander? Nur eine Randnotiz – die Rede ist natürlich von Sven-Göran Erikssons sagenhaftem, neuen Vertrag, der dem 1:1 zwischen den beiden Topteams des Landes fast gänzlich die Schlagzeilen stahl. Der Schwede bleibt nun doch Trainer der englischen Nationalmannschaft und geht nicht zum FC Chelsea. Am Donnerstag war „Sneaky Sven“ („Mirror“), der verschlagene Schwede, von Fotografen vor der Wohnung von Chelseas Geschäftsführer Peter Kenyon erwischt worden, der englische Verband bat daraufhin am Samstag zum Rapport. Erst als der Verband ihm mit der Entlassung drohte, versprach der auch von Real Madrid umworbene Nationaltrainer seinen Vertrag bis zur Weltmeisterschaft 2006 (mit gegenseitiger Option bis zum Jahr 2008) zu erfüllen; das Boulevardblatt „Sun“ sprach von einer „Schrotflinten-Hochzeit“. Eriksson ließ sich das „Ja“ dann auch fürstlich entlohnen – sein Gehalt wurde um 2 Millionen Euro auf 3,5 Millionen erhöht. Erikssons Kollegen Arsène Wenger und Alex Ferguson mag es komisch vorgekommen sein, dass vor dem Anpfiff alle Objektive an ihnen vorbei und auf den bebrillten Tribünenbesucher Eriksson zielten, doch auch ohne den Nationaltrainer im Stadion hätte dem Aufeinandertreffen der sich gegenseitig spinnefeinden Kontrahenten wohl in diesem Jahr die ganz große Brisanz gefehlt: zu deutlich war Arsenals 12-Punkte-Vorsprung. Selbst Ferguson, sonst immer für eine markige Fehleinschätzung gut, hatte am Freitag, den Klassenunterschied in dieser Saison anerkannt, sich aber danach mit Daten aus der Marktforschung getröstet: „Es ist unmöglich zu sagen, dass Arsenal der größere Verein ist. Man muss nur einmal durch Gibraltar oder Singapur laufen, die Leute reden da nur von United.“ Mag sein, aber in England gibt das filigrane Ensemble der Londoner den Ton an.“
Die Idylle von Chievo ist verflogen
Peter Hartmann (NZZ 30.3.) hätte Chievo Verona den Sieg beim AC Milan gegönnt: „Es war, wie es früher war, vor der Zeit der Milliardenschulden und der Finanzskandale und vor der Diktatur des Fernsehens. Die Serie A spielte am Sonntagnachmittag um 15 Uhr, gleichzeitig, und Italien stand still. Keine Zersplitterung des Kalenders, keine vorgezogenen und keine nachgezogenen Spiele für die TV-Unterhaltung, sondern 90 Minuten Spannung, und in Mailand fatalerweise noch ein bisschen länger: Im Krater von San Siro schien der Schiedsrichter Gianluca Paparesta einfach nicht pfeifen zu wollen, solange Chievo, das verblüht geglaubte Provinzwunder des Calcio, gegen den haushohen Favoriten AC Milan 2:1 führte. Fünf Minuten Nachspielzeit zeigte der vierte Mann von draussen mit der Leuchttafel an. Nach 47 Minuten und 27 Sekunden ging Chievos 38-jähriger Torhüter-Veteran Marchegiani mit einer Muskelzerrung zu Boden. Trainer Del Neri hatte schon drei Mann ausgewechselt, Marchegiani wurde auf dem Rasen aufgepäppelt. Als er, nach anderthalb Minuten, wieder stand, reckte Paparesta seine Hand hoch mit vier gespreizten Fingern: Eine klare Geste – es ging noch vier Minuten weiter in der Verlängerung. Mit 34 Jahren ist der Sekundenzähler Paparesta der jüngste Top-Arbiter Italiens, erblich belastet von einem Schiedsrichter-Vater, diplomierter Sportmanager der Universität Teramo und Ökonom mit einem glänzenden 110er-Abschluss, hauptberuflich leitender Rechnungsrevisor der apulischen Stadt Ostuni am Stiefelabsatz. Nach 96 Minuten und 27 Sekunden flankte Rui Costa den Ball auf Schewtschenkos Kopf, der handicapierte Marchegiani zögerte beim Hinauslaufen – Tor, Ausgleich, Ende. Alles korrekt, aber bitter für für Chievo, „alles unsere Schuld“, gestand Del Neri ein. (…) Aber auch die Idylle von Chievo ist verflogen: Der Veroneser Vorstadtklub des jugendlichen Panettone-Fabrikanten Luca Campedelli, der vor zwei Jahren als Aufsteiger mit einem fünften Platz und respektlosem Angriffsfussball verblüfft hatte, ist mit 18 Millionen Euro Steuerschulden belastet und mit den Löhnen im Rückstand. Campedelli pokerte, wie fünf Präsidentenkollegen, im vergangenen Sommer falsch, als er die TV-Rechte an den Phantasma-Sender Gioco Calcio verkaufte, der die versprochenen 10 Millionen Euro nicht zahlen konnte und inzwischen den Betrieb einstellte. Nun erhält Chievo vom Monopolisten Sky TV für die restlichen Heimspiele noch ein Trinkgeld. Zerstörend wirkte sich auf das Betriebsmodell Chievo jedoch der Zusammenbruch des Spielermarktes aus. Der Mannschafts-Architekt und Tauschhändler Giovanni Sartori entdeckte auf dem Mercato immer wieder schlummernde Talente oder verkannte Routiniers, zuletzt den früheren Nationaltorhüter Marchegiani und den Regisseur Baronio (beide Lazio), und die Grossklubs bedienten sich gerne im Schaufenster Chievos, etwa Lazio mit dem Stürmer Corradi und zuletzt Juventus mit dem Stopper Legrottaglie. Aber als der Lazio-Präsident Sergio Cragnotti im Schuldensumpf versank, drückte er sich um die 18 Millionen Euro für die Transfers der Aussenläufer Manfredini und Eriberto. Der Brasilianer Eriberto bekannte, unter einer verjüngten Identität gespielt zu haben. Er ist jetzt wieder drei Jahre älter, 28, heisst Luciano, sass eine halbjährige Sperre ab und kehrte vor einigen Wochen von einer abgebrochenen Probezeit bei Inter nach Verona zurück. Für Chievo noch ein geplatztes Geschäft. In der Not verband sich Präsident Campedelli sogar mit Arnold Schwarzenegger: Die Chievo- Spieler warben im Herbst auf ihren Trikots wochenlang für des Gouverneurs letzten Film, „Terminator 3“. Und in Mailand hätte es, acht Sekunden fehlten, beinahe für das Übermenschliche gereicht, den Sieg gegen Milans Padre-Padrone Berlusconi.“
Eine Ansammlung Unterprivilegierter sind die Ultras nicht mehr
Paul Kreiner (Tsp 29.3.) erforscht Macht und Identität italienischer Fans: „15 Prozent der Stadionbesucher gehören nach Einschätzung des italienischen Verfassungsschutzes zu den Extremen, 60 000 Fans, organisiert in 300 Gruppen. Ein Drittel von ihnen lässt sich auch politisch einordnen: ganz weit rechts. In den Siebzigerjahren, als sich die Ultras zu organisieren begannen und den Schwarzhandel mit Tickets unter ihre Kontrolle brachten, da galten sie, wenn überhaupt, als links. Doch die Szene hat sich gewandelt. So hat sich der römische Zirkel „Montemario“, benannt nach dem gutbürgerlichen Wohnviertel oberhalb des Olympiastadions, umgetauft in „Giovinezza“ – so hieß die Siegerhymne der Faschisten von Benito Mussolini. Andere Fankreise nennen sich „Viking“, „Tradizione Distinzione“, also etwa „Hochachtung vor der Tradition“, oder „Irriducibili“ – „Unbeugsame“. Zu ihrem Repertoire zählen Spruchbänder gegen „Negermannschaften und Juden-Kurven“, sie schwenken Kelten- und Hakenkreuze und bedienen sich des „römischen Grußes“, wie man in Italien das Hochheben des ausgestreckten rechten Armes nennt. In Interviews legen sie Wert darauf, als „faschistisch“ und nicht als „nazistisch“ eingestuft zu werden. Eine Ansammlung sozial Unterprivilegierter sind die Ultras allerdings nicht mehr. (…) Beim SS Lazio, der zweiten römischen Mannschaft, sind die „Fedelissimi“, die „Allertreuesten“, sogar zu erfolgreichen Unternehmern geworden: Die Ultras haben dem Verein den lukrativen Handel mit Andenken und Devotionalien abgetrotzt – oder besser: den Verein erst gar nicht herangelassen. Ihre Marke „Original Fans“ vertreiben sie über eine Kette von Geschäften. Eine weitere wichtige Rolle für die Mobilisierung der Fans spielen die Privatradios – wohl auch am vergangenen Sonntag, als im Olympiastadion die Falschmeldung kreiste, ein Roma-Fan sei von der Polizei zu Tode gefahren worden. Das Gerücht, nach dessen Ursprung immer noch gefahndet wird, hatte die Hysterie auf den offenbar überfüllten Rängen ausgelöst. In den viel gehörten Privatradios finden die Fans ihr Forum, dort diskutieren und polemisieren sie. Wer sich über die Szene informieren möchte, kommt um die Sender nicht herum. Geleitet werden die täglich zusammen siebenstündigen Foren von Starmoderatoren wie „Marione“ Corsi oder „Diabolik“ Fabrizio Piscitelli – beide haben eine rechtsradikale Vergangenheit. Wie man die extremen Fans in den Griff bekommen soll, dafür hat Italien offenbar kein Rezept.“
Het andere Oranje
Die Neue Zürcher Zeitung erweitert meinen Fokus; dafür lese und liebe ich sie. Bertram Job (NZZ 30.3.) befasst sich mit der holländischen Provinz und schreibt über den FC Volendam: „Europa im Frühjahr 2004: Überall in den höchsten Spielklassen des Profifussballs rühmen sich die Vereine ihrer wieder erstarkten Nachwuchsarbeit, die sie in Form von Schulen, Internaten und ähnlich edlen Projekten institutionalisieren. Gleichzeitig fahren sie unverdrossen fort, vom globalisierten Markt zwischen Rio und Riga fertige Spieler zu kaufen. Die sportlichen Ziele sollen möglichst umgehend erreicht werden. Für Romantik und Regionalismus ist wenig Platz. Im nordniederländischen Ort Volendam aber, unmittelbar am Deich zum IJsselmeer, ist der Anachronismus scheinbar Programm. Da sitzt Henk Kras eine halbe Stunde nach Spielschluss auf seiner Plastic-Hartschale im gerade 6000 Zuschauer fassenden Veronica-Stadion und lässt seinen kleinen Finger über die Aufstellung seiner Mannschaft wandern. Fünf, sechs Spieler darin, rechnet der „Voorzitter“ des FC seinem Besucher vor, kamen heute wieder aus dem 16 000 Einwohner zählenden ehemaligen Küstenstädtchen oder den benachbarten Gemeinden. Das ist eine Quote, auf die in der niederländischen Eredivisie, oder sonstwo in einer europäischen Spitzenliga, kein anderer Verein verweisen kann. (…) „Wir sagen den Trainern hier: Das sind unsere Spieler, andere gibt es nicht“, so Kras. „Nun macht, was immer ihr wollt – aber seht zu, dass ein paar Talente aus unserem Nachwuchs eingebaut werden.“ So führten die fortgesetzten Beschwerden von Coach Henk Wisman über das Spielermaterial in diesem Frühjahr nur dazu, dass dieser durch seinen Assistenten Johan Steur ersetzt wurde. Die Männer um Kras und Jonk halten in erster Linie daran fest, den vor vier, fünf Jahren noch hoch verschuldeten Verein nachhaltig zu sanieren – und so lange Spielergehälter zu zahlen, die etwa ein Fünftel der Bezüge von Ajax- oder Feyenoord-Profis sind. „Katastrophe“ ist ohnehin kein Begriff, den man in Volendam für ein Ereignis im Fussball verwenden würde. Seit in der Neujahrsnacht 2001 im Bistro-Café „Het Hemeltje“ ein verheerender Brand Hunderte vorwiegend junger Gäste schwer verletzte oder tötete, ist wirkliches Unglück etwas ganz Reales. Der Rechtsstreit um Ursache und Verantwortung hält noch an, und unter den Passanten im malerischen Hafenviertel kann man am Wochenende weiter manches vom Feuer gezeichnete Gesicht entdecken. Damals organisierte der FC ein Freundschaftsspiel seiner Profis gegen die 1988er Auswahl der niederländischen Nationalmannschaft, um Geld für die Opfer zu sammeln. Beim Aufstieg im letzten Sommer feierten erstmals wieder Tausende ausgelassen am Deich. Da mögen kritische Stimmen im FC Volendam das beste Beispiel für das allzu auffällige Leistungsgefälle in der obersten niederländischen Fussballklasse sehen, wenn sie von ihrer Strukturkrise sprechen. Für die tapferen Menschen am Wasser ist „Het andere Oranje“, wie der Klub sich nennt, einfach ein Zeichen, dass es im öffentlichen Leben weitergeht – in welcher Liga auch immer.“
Deportivo des Südens
Georg Bucher (NZZ 30.3.) drückt Real Murcia, wohl vergeblich, die Daumen: „Vor neun Monaten glich Murcia einem Tollhaus. Beide Klubs der südspanischen Provinzhauptstadt hatten den Aufstieg geschafft, Real in die erste und Ciudad in die zweite Division. Mittlerweile ist man wieder auf dem Boden der Realität gelandet und stellt sich für die nächste Saison auf Derbys ein. Ciudad hat gute Aussichten, die Klasse zu halten, während Real das kurze Gastspiel im Oberhaus schon abgehakt haben dürfte. Am Sonntag verzeichneten die „Rotweissen“ gegen Mallorca (2:0) zwar den dritten Saisonsieg, von einem rettenden Platz trennen sie aber noch zwölf Punkte. Nach 14 Spielen ohne Erfolgserlebnis war Joaquin Peiro von John Toshack abgelöst worden. Früher in Madrid, La Coruña und San Sebastián engagiert, findet der Waliser Toshack in Murcia gute Bedingungen für seine Lieblingsbeschäftigung Golf vor. Den Glauben an die Mannschaft hatte er allerdings schnell verloren, legt man die lockeren, ironisch bis sarkastisch anmutenden Sprüche zugrunde. Sein Bonmot, eher fliege ein Schwein über das Bernabeu, als dass er sich korrigiere, gehört zu den stärksten verbalen Stücken in der spanischen Fussballhistorie und provozierte seinerzeit die Entlassung im „königlichen“ Klub. Mit derart scharfem Geschütz wartet Toshack nicht mehr auf. Dafür versteht er es, Anhänger und Medien zu erheitern. Ein Beispiel: „Wenn wir weiterhin solche Fehler machen, spielt es keine Rolle, ob wir im Condomina-Stadion oder in einer Stierkampfarena trainieren.“ (…) Präsident Jesus Samper scheint sich geirrt zu haben. Er träumte von einem „Deportivo des Südens“, von einer Erfolgsgeschichte wie in La Coruña, die im Aufstiegsjahr 1991 angefangen, zunächst in den Uefa- Cup und nach dem Titelgewinn 1999/2000 in die Champions League gemündet hatte, wo Deportivo zu einer festen Grösse geworden ist. Ein neues Stadion sollte den Aufschwung in Murcia anschieben. Das „Nueva Condomina“ steht zwar auf dem Reissbrett, und die Finanzierung ist gesichert. Um wieder nach oben zu kommen, wird der Präsident aber tief in die Tasche greifen, vor allem zueinander passende Spieler verpflichten müssen.“
Michael Smejkal (SZ 29.3.) teilt den Rauswurf Joachim Löws bei Austria Wien mit: „Eigentlich darf sich Joachim Löw sogar als kleiner Sieger fühlen, auch wenn die letzte Woche gar nicht gut gelaufen ist für ihn. Es kam, wie es scheinbar unausweichlich kommen muss bei seinem alten Arbeitgeber Austria Wien: Verpflichtung, Vorstellung, peinliche Niederlage und Ende der Vorstellung im alt-bewährten Neun-Monats-Rhythmus. Löw aber hat dies durchbrochen, der Deutsche hielt sich unglaubliche zehn Monate auf der Bank der Wiener Violetten, länger als seine sieben letzten direkten Vorgänger, die allesamt nur zwischen 27 Tagen und acht Monaten den Job behalten hatten. Selbst sein direkter Vorgänger Christoph Daum war nur acht Monate im Wiener Arbeiterbezirk Favoriten tätig, ehe er das Handtuch warf. Und so rückten Österreichs Tageszeitungen am Donnerstag wieder einmal einen Stehkasten ins Blatt, der Kurioses und Rekordverdächtiges zugleich vermeldet: 19. Trainerentlassung in den letzten 14 Jahren, in Wien glauben sie, dies sei Weltrekord für einen Erstligisten. Gestolpert ist Löw schon im Vorjahr, als der Anlauf Richtung Champions League in Marseille beendet war und das Unternehmen Uefa-Cup mit zwei peinlichen Vorstellungen gegen Borussia Dortmund zu Ende gebracht wurde. Alles Weitere war nur taktisches Geplänkel bei einem Klub, der sich im erlauchten Kreis der Champions League wähnt, im Alltag aber vom Durchschnitt der österreichischen Liga nicht absetzen kann. Konkret war es ein 0:2 beim Tabellenletzten FC Kärnten, das den Ausschlag gab. Danach musste man nur noch abwarten, bis der allmächtige Klub-Eigner Frank Stronach aus Kanada zurückgekehrt war, um Klartext zu reden: „Er hat eh ein Jahr Zeit gehabt, aber er hat uns nicht weitergebracht.“ Nun probiert man es in Wien mit dem 20. Coach seit 1990, und weil es eben keinen passenden Coach zu geben scheint, zimmert man sich eben den Posten selbst zurecht. Künftig wird der Sportdirektor (Günther Kronsteiner) die Austria führen, mit einem Übungsleiter, der weisungsgebunden ist – in Aufstellung und Taktik. Diese Rolle hat man auch Löw angeboten, doch der nahm lieber Hut und Abfindung. Die Premiere unter Kronsteiner klappte mit dem 5:1 gegen Sturm Graz vor den Augen von Stronach recht gut, doch wie immer, wenn Milliardär Stronach in Wien weilt, wird nicht nur der Trainer gewechselt sondern gleich der ganze alpenländische Fußball reformiert – immerhin ist Stronach nicht nur Eigner der Austria, sondern auch noch Chef der österreichischen Bundesliga.“
Hire and fire
Werner Pietsch (NZZ 30.3.) ergänzt: „Stronach hier, Stronach da. Der fussballbegeisterte Industrielle Frank Stronach versteht es glänzend, sich mit spektakulären Themen laufend in den Medien zu präsentieren. Zuerst droht er mit dem Rücktritt als Bundesliga-Präsident, dann feuert er Joachim Löw, schliesslich kauft er einen Klub für österreichische Nachwuchsspieler. Aber der Reihe nach. Nach der 0:2-Niederlage vor Wochenfrist gegen den Tabellenletzten FC Kärnten waren die Tage von Löw als Coach im FK Austria Wien gezählt. Die diffuse öffentliche Kritik von Sportdirektor Günter Kronsteiner war nur das nach aussen getragene Grollen von Stronach und gipfelte in der Beurlaubung des Trainers. Stronach hatte verlangt, dass Kronsteiner in Zukunft stärker in wesentliche Fragen wie Taktik und Aufstellung des Teams eingebunden werden müsse. Löw weigerte sich, die Degradierung vom Trainer zum Übungsleiter [of: In der Fußball-Berichterstattung werden die zwei Begriffe, „Trainer“ und „Übungsleiter“, oft synonym verwendet – falsch und sprachlich grob. Als ob der mächtige Felix Magath ein Übungsleiter wäre.] zu akzeptieren, und wurde vom Präsidenten bei vollen Bezügen beurlaubt. Ein hinlänglich bekanntes Ritual im Wiener Traditionsklub, der in den vergangenen 14 Jahren nicht weniger als 20 Ausbildner verbrauchte. Unter Stronach erhöhte sich die Kadenz des „hire and fire“ noch deutlich.“
Europas Fußball vom Wochenende: Ergebnisse – Torschützen – Tabellen NZZ
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